Der Kritiker als Poetenfresser und Konservenfabrikant

Robert Musil als Theaterrezensent und Essayist - Über zwei neue Musil-Studien von Nicole Streitler und Birgit Nübel

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Nicole Streitlers Dissertation mag irritieren: Denn als Kritiker ist Robert Musil bislang weitgehend unbekannt - auch wenn sich Verlage bei Neuausgaben gern zu Werbezwecken seiner unnachahmlich formulierten Urteile über Polgar, Kafka oder Rilke bedienen. Tatsächlich ist Musils Rezensententätigkeit überschaubar: Zwischen 1912 und 1930 schrieb der österreichische Romancier gerade einmal 66 Theaterkritiken und neun Buchbesprechungen, den größten Teil davon in den Jahren 1921/22. Verglichen mit dem kritischen Œuvre eines Alfred Kerr oder Hermann Hesse erscheint es daher kaum von Gewicht. Wohl auch deshalb fand der Kritiker Musil bei der Forschung nach einem ersten Beitrag von Marie-Louise Roth Mitte der 1960er-Jahre in der Folge nur noch selten Beachtung.

Das scheint sich allmählich zu ändern. Bereits Karl Corino konstatierte in seiner großen Musil-Biografie, dass der Autor mit seinen Theaterkritiken "sowohl in sprachlicher als auch in gedanklicher Hinsicht in einem Atemzug zu nennen (ist) mit Kerr oder Polgar". Nun hat Nicole Streitler die überfällige Grundlagenstudie zu diesem Thema vorgelegt. Überzeugend und in vorzüglich lesbarer Form skizziert die österreichische Germanistin die überraschend früh beginnenden Stationen von Musils literaturkritischen Aktivitäten (bereits um 1900, also noch vor dem "Törless", bemühte sich der junge Musil in Brünn bei einer sozialdemokratischen Zeitung um einen Posten als Theaterreferent - und war später dem Schicksal dafür dankbar, dass ihm eine Blamage erspart blieb); sie ordnet den Dichter in die Literaturkritik seiner Zeit ein, expliziert seine Reflexionen zur Institution der Literaturkritik (bei deren Lektüre jedem heutigen "Emphatiker" die Schamesröte ins Gesicht steigen müsste) und seine Wertmaßstäbe und analysiert umfassend Musils Praxis als Rezensent: von der Verwendung der Metapher, die eine Art "physiognomische Spiegelung" des Kunstwerks in der Kritik erzeugt und den Leser mit ihrem emotional-ethischen Gehalt anzustecken versucht, bis zur Technik der "ironischen Beweisführung" in seinen polemischen Verrissen konventioneller oder spätexpressionistischer Unterhaltungsstücke. Allenfalls zu einigen Details in Streitlers Darstellung möchte man Ergänzungen einbringen: So gäbe es zu dem vom Krieg beendeten Zwischenspiel Musils als Literaturredakteur bei der "Neuen Rundschau" 1914 noch mehr zu sagen, als dass er damit "an einer der zentralen Stellen der deutschsprachigen Literaturkritik" saß; und Musils häufiges Feilschen um Honorare kann wohl nur jemand als "geradezu peinlich anmutend" bewerten, der nicht von solchen Honoraren zu leben versucht.

Dass Streitler aber gerade auch die ökonomischen Aspekte von Musils Rezensentenarbeit berücksichtigt (die mit harter tschechischer Krone bezahlte Tätigkeit für die "Prager Presse" sicherte in den Nachkriegsjahren schlichtweg das Überleben), gehört zu den Vorzügen ihrer Arbeit. Für die österreichische Germanistin ist der Autor des "Mann ohne Eigenschaften" ein "Meister der kleinen Form", der, wenn es sein musste, durchaus auch im Kaffeehaus gleich nach der Vorstellung "Nachtkritiken" schreiben konnte - die verblüffenderweise keinerlei qualitative Einbußen gegenüber seinen Essays zeigen. Ähnlich wie zeitgleich Walter Benjamin oder Efraim Frisch habe Musil eine "Ethisierung der Literaturkritik" betrieben und so Literatur und Kritik neu zu legitimieren versucht. Erhellend ist dabei der Vergleich Musils mit seinem nach eigenem Bekunden "größten kritischen Lehrer", Alfred Kerr, bei dem Streitler gerade die Unterschiede zwischen beiden akzentuiert.

Statt sich als Kritikergott zu inszenieren, übte sich Musil beim Rezensieren in induktiver Bescheidenheit, und anders als für seinen einstigen Mentor Kerr war für ihn die Literatur kein bloßes Spielmaterial für eine überlegene Kritik. Die Kritik war aber auch keine bloße Dienerin der Dichtung. Vielmehr waren für Musil beide gleichrangig und gehörten zusammen "wie nacheinander geborene Geschwister", wie Musil ausgerechnet in einem Porträt über Kerr schrieb - nur zusammen bildeten Literatur und Kritik ein "Ganzes" mit einer gesamtgesellschaftlichen Funktion, das "System" Literatur. Dem "Morallaboratorium" Literatur kam dabei die Aufgabe zu, neue menschliche Werte und neue Möglichkeiten des Menschseins auszuprobieren und vorzuführen.

Die Kritik hatte diese ethischen Werte in der in zahllose einander bekämpfende Richtungen zersplitterten Literatur systematisch zu verarbeiten, auszuwerten, zu diskutieren und der Gesellschaft zu vermitteln. "Literatur ernstlich voranstellen", schreibt Musil in seinem Essay "Bücher und Literatur", "heißt einen kollektiven Arbeitsbegriff auf einer geheiligten Insel einführen, und wenn man es bös ausdrücken will, die Fauna dieser glücklichen Insel zu Konserven verarbeiten." Der Kritiker als, um im Bild zu bleiben, Konservenfabrikant wäre somit für die sinnstiftende und fortschrittssichernde "Synthese" der chaotischen literarischen Realität zuständig.

Als Musils oberste Wertmaßstäbe bestimmt Streitler 'Aktualität' und 'Innovation', Kriterien, die ethisch interpretiert wurden: Trägt ein Kunstwerk zur Lösung bestehender Lebensfragen bei? Geht es über das bereits Bekannte und Existierende hinaus? Mit diesen Maßstäben konnte Musil ein Stück wie Goethes "Stella" mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung noch als "moralisches Ereignis" feiern und selbst die Produkte der Heimatliteratur wie Paula Groggers Roman "Das Grimmingertor" unvoreingenommen auf ihren Beitrag zu Alternativentwürfen zur gesellschaftlichen Realität hin befragen.

Indem die Kritik das Bedeutende eines Kunstwerks herausarbeitet, sichert sie es und macht es für das Leben fruchtbar. Für Musils Theaterkritik bedeutete dies, dass der Schwerpunkt auf dem Ethisch-Einmaligen eines Stückes lag. Wo eine solche ethische Substanz nicht vorhanden war, war es die Aufgabe einer "konjunktivischen Kritik", die misslungene Realität mit der abwesenden Utopie zu konfrontieren und nach den "noch nicht erwachten Absichten" des Autors zu suchen. Platz für die Kritik von Inszenierung und Schauspielerleistung blieb bei dieser Schwerpunktsetzung kaum (für den zeitgenössischen Kult des großen Theaterschauspielers hatte Musil ohnehin kein Verständnis, hatte doch der Akteur nur das ausführende Organ des Autors zu sein); stattdessen kam es in Musils Rezensionen regelmäßig zur "essayistischen Überschreitung des eigentlichen Gegenstands", Reflexionen, die in ihrer Gesamtheit für Streitler eine "Poetik in Fragmenten" bilden.

1935 schreibt Musil seinem (damals Ex-?)Freund Franz Blei, der ihm eine Besprechung seines Romans angekündigt hatte: "Dem Schicksal entrinne ich ja doch nicht, daß Sie mit der Absicht beginnen, über mich oder den Mann o.[hne] E.[igenschaften] zu schreiben und mich in die Freude der Ankündigung versetzen, dann aber sich am gebundenen Thema langweilen und ins freie Schreiben geraten, das nur noch durch eine Nebel-Nabelschnur mit dem Ausgangspunkt zusammenhängt."

Die Stelle ist insofern bemerkenswert, als sie das Ende einer jahrzehntelangen Autorenfreundschaft markiert, die sich just dadurch auszeichnete, dass sich beide, Musil wie Blei, hemmungslos der Texte des jeweils anderen bedienten. Kürzere oder längere Passagen aus der Feder des Freundes wurden um-, ab- oder weitergeschrieben, zitiert, kommentiert oder den eigenen Texten einverleibt. Birgit Nübel rekonstruiert diese in Musils Autorenexistenz einmalige Freundschaft mit der wechselseitig ausgestellten Lizenz zur Textpiraterie (man denke nur an Musils hysterisch anmutende Reaktion, als er Ähnlichkeiten zwischen seinen Arbeiten und denen Hermann Brochs erkennen wollte) im Rahmen ihrer mehr als 500 Seiten starken Habilitationsschrift. Für die Hannoveraner Germanistin ist die Beziehung Blei-Musil ein "ungefähr dreißig Jahre währender Prozess literarischer Zusammenarbeit, wechselseitiger Textassimilation, gemeinsamer Textproduktion, reziproker Kommentierung, zitierender Fortschreibung und fortschreibender Zitierung, kritischer Reflexion und füreinander werbender PR-Arbeit." Das Instrumentarium der Intertextualität erweist sich bei der Untersuchung als nur bedingt brauchbar, im Gegensatz zu metaphorischen Charakterisierungen Nübels, die teilweise auf Musil selbst zurückgehen wie "Assimilation", "Poetenfresserei" oder "Textkannibalismus".

Der an der Beziehung zwischen Blei und Musil exemplarisch herausgearbeitete Vertextungs- und Publikationszusammenhang ist Kernstück und Höhepunkt von Nübels anspruchsvoller, luzider, ausgesprochen zitierfreudiger und mit allen literaturtheoretischen Wassern gewaschener Untersuchung zum "Essayismus als Selbstreflexion der Moderne". An der Musil-Forschung kritisiert Nübel mit Recht, "Essayismus" als stets anwendbares "Schlüssel-, wenn nicht gar Zauberwort" missbraucht zu haben, ohne den dahinter stehenden Sachverhalt exakt zu bestimmen. Für Nübel ist Essayismus kein inhaltlich oder formal zu bestimmendes Textmerkmal, vielmehr ein "einzeltext-, gattungs- wie diskursüberschreitendes Vertextungsprinzip, welches die Verfahren der interdiskursiven Traversion selbstreflexiv kommentiert". Essayismus ist ein für das Krisenbewusstsein der Moderne charakteristischer "Modus (selbst-)kritischer Reflexion, der in der Darstellung/Vertextung seine eigenen Voraussetzungen, Verfahren und Grenzen thematisiert" - ein zwischen allen Diskursen schwebender, sie verbindender und überschreitender Beobachter zweiter Ordnung, der gerade im Fall Musils eine Fiktivierung der Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser erzeugt. Als Ausgangspunkt der kenntnisreichen und vorbildlich textnahen Studie dient ausnahmsweise nicht Nietzsche, sondern Georg Simmel - für Nübel ein "Multiplikator bzw. Verteiler", der sich in die von ihr untersuchten Autoren (neben Musil und Blei auch Georg Lukács, Béla Balázs, Alfred Kerr und Hermann Broch) eingeschrieben hat.


Titelbild

Nicole K. Streitler: Musil als Kritiker.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
356 Seiten, 61,40 EUR.
ISBN-10: 3039106805

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Titelbild

Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne.
De Gruyter, Berlin 2006.
536 Seiten, 118,00 EUR.
ISBN-10: 3110184052

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