Goldgräber

Sybille Berg schickt die Figuren ihres jüngsten Romans auf Reisen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob das Dasein und die Existenz der Welt gerechtfertigt seien, war eine der Fragen, die Friedrich Nietzsche bei der Abfassung seines frühen Werkes "Die Geburt der Tragödie" besonders umtrieben. Ja, sie seien es, wenn auch nur als "ästhetisches Phänomen", beteuerte er gleich mehrfach. Gunnar, eine der nicht eben wenigen Figuren aus Sibylle Bergs neuem Roman "Die Fahrt", genügt es hingegen schon, wenn das Leben - namentlich seines - erträglich ist. Und das ist es "nur mit einem anderen Menschen". Das klingt nicht gerade sonderlich wählerisch. Die Figur Juana scheint ihre Erwartungen an das Liebesglück gar noch mehr zurückzuschrauben, wenn sie erklärt, man müssen schon "dankbar sein, irgendeinen Menschen zum Teilen der eigenen Nichtigkeit zu finden". Und Pia definiert: "Geliebt werden ist: Jemand erträgt dich." Drei Bekenntnisse in Sachen Liebe, die das Grundmotiv der Melodie anklingen lassen, nach der eine Autorin wie Sibylle Berg das Hohelied auf die Zweisamkeit anstimmt.

Natürlich ist das alles nur Rollenprosa (ebenso wie die sonstigen Weltbewältigungs- oder gar Glückshoffnungen von Bergs ProtagonistInnen). Doch sticht ins Auge, dass Pias Weisheit bis in den Wortlaut hinein identisch ist mit einem persönlichen Statement, das die Autorin unlängst in einem einleitenden Text eines von ihr herausgebenden Bandes mit Abschiedsbriefen von Frauen verlauten ließ. Sollte da doch Autobiografisches beziehungsweise Liebessicht und -empfinden der Autorin eingeflossen sein? Möglich. Vielleicht hat sie hier aber auch nur - wie in anderen Passagen ebenfalls - einen ihrer früheren Texte erneut verwurstet. Denn auch die Sätze vor und nach dem Pia-Zitat sind in beiden Texten identisch.

Doch wie dem auch sei: Pia ist jedenfalls anders als Nietzsche keineswegs der Auffassung, die Welt sei als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Im Gegenteil ist sie ihr ein "hässlicher Ort". Und zwar nicht nur "hinter den Fassaden", sondern "auch schon davor".

Näher als die Assoziation zu Nietzsches Rechtfertigungsversuch von Dasein und Welt liegt hier die zu Schopenhauer, von dem erzogen worden zu sein Nietzsche sich in einer seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen" rühmte. So recht aufmerksam scheint der gelernte Altphilologe allerdings nicht gewesen zu sein. Sonst wäre ihm Schopenhauers Hinweis, dass die Welt kein "Guckkasten" ist, nicht entgangen. Eine Bemerkung, die allerdings nicht die Ästhetik der Welt ins Auge fasst, sondern deren Ethik. Doch auch die von Pia in Bergs Roman konstatierte Hässlichkeit zielt allenfalls bei flüchtiger Betrachtung auf die Oberfläche vor und hinter den Fassaden, im Grunde aber tief ins leidige Dasein.

So gemahnt denn auch die scheinbar sich endlos wiederholende Suche der Figuren nach dem Glück nicht so sehr an Nietzsches These der "Wiederkehr des Immergleichen". Vielmehr scheint auch für sie ein Topos Schopenhauers angemessener, mit dem der große Weltverneiner und Willensmetaphysiker Nietzsches Wendung schon lange vor diesem in der Metapher des "Rads des Ixion" präziser fasste.

Überhaupt liest sich Bergs Roman sehr 'schopenhauerianisch'. So sind Bergs Figuren alles andere als unterwegs ins angestrebte große Glück. Dafür stehen die Chancen in einer Welt, die "zu 90 Prozent aus Dreck" besteht, auch von vorneherein nicht besonders gut. Und dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass Menschen - wie es an einer Stelle heißt -, alleine "um zufrieden zu sein", zumindest Sicherheit, Demokratie, Bildung und Wohlstand benötigen. Und diese Zufriedenheit wäre dann noch nicht einmal eine hinreichende Bedingung für Glück, sondern nur eine notwendige. Womit wiederum "90 Prozent der Erde" nicht in Betracht kommen. Geben wir uns optimistisch und gehen davon aus, dass die 90 Prozent Dreck und die 90 Prozent Nicht-Demokratie das gleiche Gebiet abdecken, so bleiben gerade mal 10 Prozent Welt, in der Glück nicht von vorneherein ausgeschlossen ist. Wenn sich nun allerdings alle Glücksstrebenden (auch das dürften mindestens 90 Prozent sein), auf diesen 10 Prozent einfänden, dann dürfte das Gedränge bald so groß werden, dass es auch dort mit dem Glück nicht mehr weit her sein kann.

Wenn es trotz all dieser widrigen Umstände in Bergs Roman doch einmal so klingt als habe jemand sein Glück weniger gemacht als vielmehr gefunden, dann scheint es so langweilig zu sein, dass man unter ihm mehr ächzen könnte, als unter allen Leiden der Welt. Wer möchte schon ein Leben in den "ganz reizend[en]" Bergdörfern fristen, wo man alle kennt, auch die Tiere. Dörfer, in denen die Luft "über jeden Zweifel erhaben" ist, "und statt ins Kino gehen alle Sonnenuntergang schauen"? Wie unterhaltsam! Auch dies scheint die grundsätzlich schopenhauerianische Tendenz des Buches zu bestätigen, dass Glück nur die Abwesenheit von Leiden ist. Ist dieses jedoch einmal beruhigt, so setzt Schopenhauer zufolge sofort die Langeweile ein. Etwas dem Glück ähnliches kann allenfalls der weltabgewandte Weise in der kontemplativen Willensverneinung finden. In Bergs Roman am ärgsten trifft es manchmal gerade diejenigen, die glauben, das Glück, das große, rein und absolute, endlich gefunden zu haben - etwa wenn sie als ganz normale junge Frau starten und auf den wenigen Seiten eines Kapitels zur gläubigen Idiotin verkommen.

Der Titel des Romans "Die Fahrt" zielt natürlich darauf ab, dass sich alle Figuren ständig auf Reisen befinden - möglichst ins Glück, wie sie hoffen. Tatsächlich aber fahren sie kaum einmal, sondern fliegen zumeist. Und selbst diejenigen, die "eigentlich nirgendwohin" wollen, hocken in einem Flughafen. Ebenso wie diejenigen, die niemals irgendwohin können. Doch ob sie reisen und wohin sie reisen, oder ob sie bleiben, wo sie sind, ist eigentlich Jacke wie Hose. Denn nirgends ist es besser, wo ich nicht bin, lautet die Weisheit, welche die Autorin so ziemlich allen ihren Figuren eintrichtert. Wo immer man auch ist, ist man wenigstens nicht woanders. Und das ist das einzig Gute daran.

Die nicht weniger als 79 Kapitel des Romans scheinen ebenso zufällig aneinandergereiht zu sein wie die Episoden in Luis Buñuels Film "Der diskrete Charme der Bourgeoisie". Tatsächlich aber erweist sich die Figurenkonstellation als ebenso engmaschig wie kunstvoll gestricktes Beziehungsnetz. Da gibt es neben den bereits Genannten etwa noch den altersmilden Misanthrop Frank, der sich seine Lebenshaltung womöglich ein wenig von der Autorin abgeschaut hat; Helena, die ihr Leben hasst und "ständig auf der Suche nach etwas [ist], was ihr sinnvoller [erscheint] als sie selbst". Es gibt Miki, die zunächst überrascht feststellt, "dass Geld doch glücklich macht" und dann, dass es nur Freiheit ist, die selbiges einem bieten kann. "Aber was", fragt sie sich, "wenn man die gar nicht wollte". Peter hingegen schickt sich an, vom Dach einer Berliner Versicherungsgesellschaft herab möglichst viele Frauen abzuknallen. Des weiteren wird eine "Freundin" erwähnt, die "bis zu ihrem 39. Geburtstag ein normaler Mensch gewesen" war. "Dann hatte sie geboren und zusammen mit ihrer Plazenta ihr Hirn unter einer Eibe vergraben." Das würde Männern in der Welt (nicht nur) dieses Romans vermutlich nicht viel anders gehen - wenn sie denn gebären könnten und ein Hirn hätten. Ersteres können sie bekanntlich nicht und im Kopf haben sie auch nur "Testosteron und Dummheit".

Ja, und dann gibt es irgendwo in Lateinamerika noch eine Gruppe Goldgräber, die Indianer vertreiben, die Flüsse verschmutzen, den Regenwald kaputt machen, saufen und einander erschießen. "Das perfekte Männerland. Alkohol und harte Arbeit und einmal in der Woche Saloon spielen." Doch für eine Frau, die ihre Suche nach dem Glück dorthin lockt, erweist sich die kleine, aus Hütten zusammengestückelte Siedlung bald als "Hölle". Goldgräber aber, dass sind sie natürlich alle, die Figuren in Bergs Buch.

Das alles scheint Arthur Schopenhauers Vorstellung der Welt tatsächlich sehr verwandt zu sein. Dennoch ist "Die Fahrt" weit davon entfernt, eine Literarisierung seiner pessimistischen Philosophie zu sein. Dazu ist sie bei aller lakonischer Misanthropie, der zufolge der "Fehler" der Mensch selbst ist, denn doch zu optimistisch. Und das ist für Lesende, die in Bergs bisherigem Œuvre auch nur einigermaßen bewandert sind, keine geringe Überraschung.

Während Schopenhauers Welt nur Leiden und Langeweile kennt, verhält sich das in der des Romans doch nicht ganz so. Es erweist sich nämlich, dass doch nicht alles ganz und gar schlecht ist in der Welt, durch die sich Bergs Figuren schlagen müssen - und manchem lässt sich sogar etwas Gutes abgewinnen. Die Feststellung, die sich abzeichnende Tendenz, dass immer weniger Väter bei der von ihnen geschwängerten Frau und dem gemeinsamen Sprössling bleiben, auf die Jungen "nicht nachteilig" auswirkt, da sie so lernen, "Frauen als überlegen zu akzeptieren" und sich nicht mehr "breitbeinig auf Sessel setzen und Mutproben machen" müssen, ließe sich noch als Sarkasmus interpretieren. Bei anderem ist das allerdings anders. Zwar lügt Berg für keine ihrer Figuren das ganz große Glück herbei, aber zumindest einigen wenigen von ihnen gewährt sie doch ein kleines, vielleicht sogar unscheinbares, etwa beim Fußballspielen in Peru. Und mehr noch, diese kleine Glückserfahrung könnte der Beginn einer Wende zum Besseren sein.

Eine dieser Figuren, wohl eher eine der unglücklichen, lässt sich Geschichten erzählen, die sie aufschreibt. Auch das mag autobiografisch klingen, doch sollte man es durchaus nicht so lesen. Und es ist auch ganz sicher nicht das vorliegende Buch, an dem die Figur sitzt. Selbst wenn deren Notiz: "Wir wollen weg, weil wir das Glück finden wollen" seinen Inhalt auf frappierende Weise trifft. Denn etwas unterscheidet die schriftstellerischen Versuche der Person eklatant von Bergs "Fahrt": Ihr fließt ein "Brei" aus der Feder, der an "immer der gleichen Pointe" leidet. Nun heißt es zwar in Bergs Buch, alle kämen irgendwann an den Punkt "sich betrogen fühlend [zu] sterben", doch kann einem nicht entgehen, dass die eine oder andere Figur auf dem Weg dorthin tatsächlich so etwas wie einen kleinen Nugget individuellen Glücks findet.

Anders als in ihrem letzten Roman "Ende gut", dessen Titel bereits besagt, das nur das Ende gut ist, also der Moment des letzten Stillstandes, dem nichts mehr folgt, sind es in "Der Fahrt" diese kleinen Nuggetfunde auf dem Lebensweg dorthin, die "gut" sind. - Und, ach ja, in Island wachsen die kleinen Nuggets auf den Geysiren.


Titelbild

Sibylle Berg: Die Fahrt. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.
346 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783462039122

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