Döblin Alexanderplatz

Alfred Döblins moderner Klassiker in neuen Editionen und Interpretationen

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Habent sua fata libelli! Dies gilt in besonderem Maße für Alfred Döblin und seinen Roman. "Berlin Alexanderplatz" - so sollte ursprünglich schon der ganze Titel lauten. Aber Döblins Verleger, Samuel Fischer, meinte, dies sei doch einfach nur der Name einer Bahnstation und bestand auf einem Untertitel: "Die Geschichte vom Franz Biberkopf". Döblin beugte sich, in der Hoffnung, daß seine Intention dennoch verstanden werden würde. Er hatte sich bei der Titelgebung etwas gedacht: Nicht Franz Biberkopf stand im Mittelpunkt seines Romans, zumindest stand er nicht allein dort; im Zentrum standen auch das pulsierende Leben rund um den Alexanderplatz, das Tableau des Berliner Ostens mit seinen sozialen, geistigen, sprachlichen Besonderheiten, sowie die neue Erzählweise, welche die Geschichte des einfachen Hilfsarbeiters und Straßenhändlers Franz Biberkopf und seiner Stadt erst zum Ereignis machen sollte.

Im Oktober 1929 ausgeliefert bekam das Buch bis Ende des Jahres etwa fünfzig vorwiegend zustimmende bis begeisterte Rezensionen. Und Döblins Intentionen wurden verstanden. "Auf dem Hintergrund von Berlin", so ein Kritiker, zeichne der Autor "ein Bild unserer Zeit: erbarmungslos, kühn, visionär." Die "formale Leistung" des Romans wurde geradezu gefeiert. Sie besteche, so der Kritiker Wilhelm Westecker, "durch ihre neuartige, an Photomontage erinnernde Methode". Nicht eine Hauptfigur, sondern "tausendfältige Spiegelungen und Brechungen" charakterisierten dieses "sprachlich wie darstellerisch Neuland erobernde[] Epos". 1931 scholt Siegfried Kracauer die erste Romanverfilmung öffentlich aus, weil sie Döblins Absicht in ihr Gegenteil verkehrt habe: der an sich ideale Filmstoff sei dem Starkult geopfert worden. Man habe den Focus einseitig auf Heinrich George (alias Franz Biberkopf) gelegt, während die Stadt und die montageartige Erzählweise des Romans zur bloßen Staffage verkommen seien. Erst mit Rainer Werner Fassbinders Verfilmung erfuhr die Montagetechnik des Romans, der quasi halb schon Drehbuch war, eine angemessene Umsetzung.

Bis 1933, als das Buch in Hitlerdeutschland verboten wurde, wurden etwa 50.000 Exemplare verkauft. 1947 kam die erste Nachkriegsausgabe bei Schleber in Kassel heraus, 1955 die erste Ausgabe für die DDR (Verlag das Neue Berlin), weitere Ausgaben folgten, doch auf die kritische Edition im Rahmen der Ausgewählten Werke mußten wir lange warten. Umso erfreulicher ist das nun von Werner Stauffacher vorgelegte Monument. Die Vorzüge dieser Ausgabe lassen sich besser darstellen, wenn man sie mit der durchaus achtbaren Ausgabe des Winkler Verlages vergleicht. Die Walter-Ausgabe enthält neben der Fassung des Erstdrucks auch die Vorabdrucke aus der Frankfurter Zeitung, der Neuen Rundschau, dem Berliner Tageblatt und anderer Zeitungen und Zeitschriften, soweit sie frühere Textzustände repräsentieren - immerhin mehr als 200 Seiten Text. Sie enthält ferner circa 80 Seiten Textergänzungen aus der Handschrift. Die Winkler-Ausgabe hingegen beschränkt sich auf den Haupttext, vermutlich in der Fassung des Erstdrucks (Angaben hierzu fehlen). Dafür bietet sie im Anhang Döblins Selbstinterpretation aus dem Jahre 1932 und sein Nachwort zur DDR-Ausgabe - auf diese Texte kann Walter verzichten, da sie bereits in den "Schriften zu Leben und Werk" (Olten 1986) kommentiert vorliegen. Die Winkler-Ausgabe enthält zusätzlich eine Zeittafel zu Leben und Werk, beide Ausgaben werden durch ein Nachwort des jeweiligen Herausgebers begleitet. Am stärksten unterscheiden sich die Stellenkom-mentare: Die Walter-Ausgabe verzichtet weitgehend darauf, allgemeines Lexikonwissen zu erläutern. Der Kommentar des Winkler Verlags ist hingegen ganz auf die Bedürfnisse einer breiten Leserschaft ausgerichtet: Hier wird etwa erklärt, wer Rosa Luxemburg war, was ein Deutscher Michel ist usw. Beide Editionen legen viel Wert auf das Dechiffrieren der zahlreich eingestreuten, oft verkürzten oder verballhornten Fremdtexte (aus Bibel und Talmud, aus Volksmund und Kinderlied, aus Werbung und Zeitgeschichte), wobei der Walter-Kommentar weitaus fündiger geworden ist als der Winkler-Kommentar, was sich allein schon am Umfang (73 gegenüber 25 Seiten) ablesen läßt: Werner Stauffacher hat offenbar nicht nur dieselben Tageszeitungen und Anzeigenblätter gewälzt wie Döblin, er hat auch Zeitzeugen konsultiert, Filmplakate ausgewertet und staatliche Institutionen eingespannt. So wird etwa auf die "Dienst- und Vollzugsordnung für die Gefangenenanstalten" in Preußen verwiesen, zu der ihm die Anstaltsleitung der heutigen Justizvollzugsanstalt Tegel verholfen hat. Hut ab, die Herren. Stauffacher hat dadurch einen wunderbar reichhaltigen Kommentar zuwege gebracht, der für Döblins Collage- und Montageverfahren von unschätzbarem Wert ist. Beide Editionen sind bemüht, die lokalen Gegebenheiten, die Berliner Schauplätze, den Trambahnverlauf usw. präzis nachzuweisen. Die Winkler-Ausgabe macht ihre Leser gelegentlich auf zentrale Motive aufmerksam, die dann mit Angabe der Fundstelle aufgelistet werden (allein dreizehn Belege für das Motiv der "abrutschenden Dächer"). Dergleichen ist natürlich ein erstklassiger Service, der zum Standard eines jeden guten Kommentars gehören sollte.

Die montageartige Schreibweise unterschied Döblins "Berlin Alexanderplatz" nach Auffassung der Erstrezipienten "von allen zeitgenössischen Romanen". Für seine Erzähltechnik wird Döblins Roman noch heute gerühmt, sie ist vielleicht die eigentliche Heldin. Christoph Dunz hat die spezifische Montagetechnik und Perspektivierung auf der Basis von Franz K. Stanzels "Theorie des Erzählens" untersucht und dabei auch erzähltheoretische Ansätze von Käte Hamburger, Gérard Genette und anderen mit einbezogen. Die Erzählsituation und die Funktionsweisen der zahlreichen Fremdzitate, die Fragen der Perspektivierung, der (Leit-) Motivik, der Rhetorik, Symbolik und Metaphorik geben in der Tat ein spannendes Untersuchungsfeld ab. Dunz macht wenigstens drei Stimmen aus, die des Erzählers, die des Protagonisten und die des Todes, wobei ihre Abgrenzung voneinander und ihr ontologischer und erzählsituationeller Status nicht immer eindeutig zu klären ist. Die Übergänge sind oft fließend, verschiedene Erzählmodelle werden gleichzeitig, simultan ausprobiert, was etwa in den Versuch des "Doktor Allwissend" (Emanuel Bin Gurion) und auktorialen Erzählers mündet, auf die Ebene der Figuren hinabzusteigen oder hinter sie zurückzutreten: "Dies erhöht die Literarizität des Textes und wirkt auch der Gleichsetzung von Autor und Erzähler entgegen."

Die Schicksalsreise von Alfred Döblins Erzähltableau "Berlin Alexanderplatz" hat nach Verbot und Bücherverbrennung und nach der Odyssee durch verschiedene Verlage einen positiven Verlauf genommen: Eine respektable "Volksausgabe", eine vorzügliche Kritische Edition (die textgleich als dtv-Taschenbuch erschienen ist) und eine wissenschaftliche Rezeption mit Blick für das Wesentliche dienen dem Ziel, uns diesen herausragenden Autor weiter zu erschließen. Auch andere Verlage haben dem Bedürfnis nach Leseausgaben Rechnung getragen. Seit 1975 ist "Berlin Alexanderplatz" in der Bibliothek Suhrkamp lieferbar, und erst im vergangenen Jahr hat der S. Fischer Verlag eine preiswerte Volksausgabe mit einem Nachwort von Dieter Forte herausgebracht.

Titelbild

Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz.
Reclam Verlag, Stuttgart 1998.
285 Seiten, 6,10 EUR.
ISBN-10: 315016009X

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