Klassiker der Gegenwart

Heute wäre Robert Gernhardt siebzig Jahre alt geworden

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn in ganz Deutschland eines Dichters gedacht wird, der heute siebzig Jahre alt geworden wäre, dann ist das für alle, die sein Werk lieben, eine Ermutigung. Und wenn sich schon kurz nach seinem frühen Tod (im Juni 2006) das bedeutendste Literaturmuseum der Republik entschlossen hat, der wachsenden Gemeinde der Gernhardt-Leser und -Anhänger Einblick in seinen Nachlass zu gewähren, dann ist das als bemerkenswertes Bekenntnis zu einem Klassiker der Gegenwart zu lesen.

Robert Gernhardt ist der bedeutendste Dichter der Deutschen seit Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Die Ausstellung seiner Notizhefte, die derzeit unter dem Titel "Kippfiguren" in Marbach am Neckar gezeigt wird, ist die erfolgreichste Sonderschau, die das Literaturmuseum seit langem zu verzeichnen hat. Mit Recht - denn sie überwältigt den Betrachter durch ihren Reichtum der Einfälle, der (oft gereimten) Mitteilungen und Beobachtungen und der in einem Marbacher Magazin (faksimiliert) wiedergegebenen Handschrift. Die rasche Auffassungsgabe des Dichters drückt sich in ihr ebenso aus wie seine zeichnerische Stilsicherheit. Sein unerhörter Wortwitz manifestiert sich dabei in den vielfältigsten Formen und Gattungen: "Seht ihn an den Lehrer, / trinkt er wird er schwerer. / Ratet mal, wieviel er trank, / als er durch die Schule sank."

Es wäre nicht verwunderlich, wenn dieser bislang unveröffentlichte Vierzeiler aus der Serie "Folgen der Trunksucht" bald die Trennwände der Jungentoiletten unserer Schulen schmückte - und zwar landesweit. Denn es war die Gabe Robert Gernhardts, mit griffigen Formulierungen an unser Formengedächtnis zu appellieren und in aller Munde zu sein. Dabei bemerken es viele nicht einmal, wenn sie Schöpfungen des Meisters zitieren - denn dank der enormen Medienpräsenz des Dichters und seiner Texte, dank auch des Komikers Otto Waalkes und des Neuen Frankfurter Schulorchesters, die weite Teile ihres Repertoires aus seinem Werk bestritten, nicht zuletzt dank der zur Nachahmung anregenden Kraft und Dynamik seiner Verse, sind diese nachgerade Teil des Volksmunds geworden.

Neben einer großen, schnell wachsenden Fangemeinde hat er sich auch den Respekt seiner Zunft erschrieben. Martin Mosebach, der diesjährige Büchnerpreisträger, verglich den Dichter mit einem Mineralogen, der mit seinem "Hämmerchen" auf "nichtssagend graue Steine" schlage, bis sie zerspringen würden und ihm ihr Innerstes offenbarten, eine "funkelnde Druse" etwa als den verzückt leuchtenden Hohlraum des Gesteins: "In diesen Regionen des Dichtens", so führt Mosebach aus, "ist die Form als strenge Zuchtmeisterin ganz zurückgetreten und beinahe unauffällig geworden". Und weiter: Für Gernhardt war die Form "eine gehorsame und ergebene Dienerin".

Von "kühler Heiterkeit" seien Gernhardts Verse, und man müsste wohl ergänzen: auch von warmer Herzlichkeit. Das folgende Fundstück aus den "Brunnenheften" passt als guter Kontrast in die gern "besinnlich" genannte vorweihnachtliche Zeit: "Was ich hör / den Verkehr // Was ich denk / Welch Getränk // Was ich tu / ich schau zu // Was ich schau / Nacht so blau // Was ich mach / meine Sach // Was die ist / Jesus Christ."

Wer ihn wiederlesen oder erst noch entdecken möchte, wer eine geeignete Festgabe sucht, die den ganzen Dichter "wie in einer Nussschale" enthält, der möge sich das Lesebuch zulegen, das Johannes Möller, der beste Kenner des Werkes, soeben im Fischer Taschenbuchverlag herausgegeben hat: "Weiße Weihnacht an der Côte d'Azur". Möller hat seine Auswahl an der formstrengen Lyrik ebenso wie an der vielfältigen Prosa orientiert, an den Bildergeschichten ebenso wie an den Bildgedichten. Seine schon im Titel vielfarbig schillernde Anthologie enthält eine kluge Auswahl dessen, was Gernhardts Wortkunst ausmacht. Und des Dichters jüngerer Bruder Per Gernhardt hat die Spannung von deutscher Gemütlichkeit und eleganter Weltlichkeit in ein kongeniales Titelbild gefasst. Ideal für den Gabentisch.


Titelbild

Kippfiguren. Robert Gernhardts Brunnen-Hefte.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2007.
136 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384344

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Titelbild

Robert Gernhardt: Weiße Weihnacht an der Côte d'Azur.
Herausgegeben von Johannes Möller.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
119 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783596176779

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