Masculinfreie Männer und femininfreie Frauen

Detlev Münch gibt fünf vermeintlich feministische Utopien aus den Jahren 1899-1910 heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie ein bekanntes feministisches Bonmot besagt, sind die Utopien der Männer die Dystopien der Frauen. Nun haben allerdings nicht nur Männer zur Feder gegriffen, um Utopien zu verfassen, sondern gelegentlich auch Vertreterinnen des so genannten anderen Geschlechts. Und das nicht erst seit gestern. So wurde etwa eine der ersten Utopien überhaupt von einer Frau erdacht: Christine de Pizans "Stadt der Frauen" entstand bereits im Jahre 1405. Daher wundert es nicht, dass Frauen nicht nur in den feministischen 1970er-Jahren, sondern auch zur Zeit der nicht minder frauenbewegten Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihre Visionen einer idealen Zukunft zu Papier brachten. Man denke nur an Charlotte Perkins Gilmans "Herland". Angesichts der auch und gerade in den Genres des Science Fiction und der Utopien männlichen Kanonbildung muss man allerdings annehmen, dass die meisten der vor rund einem Jahrhundert geschriebenen Utopien von Frauen verloren oder doch zumindest vergessen sind.

Da erfreut es umso mehr, wenn nun ein Buch "fünf vergessene feministische Utopien aus den Jahren 1899-1910" vorzulegen verspricht. Das gut hundert Seiten umfassende Bändchen enthält Therese Haupts "Die Frau nach fünfhundert Jahren" (1899), die unter dem Kürzel H. W. publizierte Kurzgeschichte, "Das Ewig-Weibliche im Jahr 2500" (1908), E. Tannes "Die Frauenwelt auf dem Mars" (1910), Ellen Keys "Die Frau in hundert Jahren" (1910) und "Die Frau und die Liebe (in 100 Jahren)", eine von Dora Dyx ebenfalls 1910 veröffentlichte Kurzgeschichte.

Detlev Münch, der sich auf der Rückseite des Titelblattes als Diplomchemiker ausweist und ansonsten als ehrenamtlicher Verwaltungsrichter und parteiloser Ratsherr der Stadt Dortmund tätig ist, hat es herausgegeben. Ursprünglich wollte er die Geschichten in einen "Die Liebe der Zukunft vor 100 Jahren" betitelten Band aufnehmen, in dem sie zweifellos auch besser aufgehoben gewesen wären. Denn in einem stilistisch etwas hölzernen und auch von Schnitzern nicht ganz freien Vorwort zeigt sich der Herausgeber zwar immerhin als Kenner der deutschsprachigen Science Fiction um 1900. Hinsichtlich des seinerzeitigen Feminismus erweist er sich hingegen als ungleich weniger sattelfest.

Dies schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass die meisten der von ihm als "feministisch" behaupteten Autorinnen ebenso wie ihre Texte tatsächlich antifeministisch sind. So ist es zumindest strittig, ob es sich bei Ellen Key um eine Feministin handelte. Hedwig Dohm, eine der führenden Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit, kritisierte Keys Schrift "Missbrauchte Frauenkraft" jedenfalls als antifeministisch und bezeichnete deren Autorin als "gefährlichste unserer Gegnerinnen". Davon abgesehen handelt es sich bei Keys Text um eine deutlich als Dystopie markierte Erzählung, laut der im Jahre 2006 eine Serum entwickelt wurde, das die "entsetzliche Krankheit" der "Individualitäts- und Originalitätssucht" mittels "[a]llgemeine[r] Zwangsimpfung" heilt. Auch wurden Mittel und Wege gefunden, sich "ohne Elternschaft fortzupflanzen". Mit diesem "unwürdigsten Mittel, das die Natur in der Eile zusammengepfuscht hat", beschreibt Key die Feministinnen ihrer Zeit ironisierend, sei auch "die einzige noch übrige Frauenbefreiungsfrage aus der Welt verschwunden". Überhaupt sind "[d]er männliche und der weibliche Typus" in Keys - wie die Ironie deutlich macht - eindeutig dystopisch gemeinter Zukunftsvision "in hohem Grade verschmolzen", so dass nur noch "masculinfreie Männer" und "femininfreie Frauen" auf der Erde wandeln.

Auch bei Therese Haupts Kurzgeschichte handelt es sich keineswegs um eine "feministische Utopie", sondern wiederum um eine antifeministische Dystopie. Ihre Protagonistin, offenbar eine Frauenrechtlerin, bereitet zu Ende des vorletzten Jahrhunderts (also zur Entstehungszeit des Textes) einen Vortrag zum Thema "Die Frau nach fünfhundert Jahren" vor, in dem sie die "golden Zeit" preisen möchte, "da die Frau auf freier geistiger Höhe steht, mit dem Manne Aug' in Auge kämpfend, ihn oft besiegend". Ähnlich wie die Angehörigen des radikalen Flügels der Ersten Frauenbewegung vertritt sie also ein gleichheitsfeministisches Ideal, das sich in der Erzählung allerdings unter der Hand entscheidend verwandelt. Von ihrem Mann mittels Hypnose ins Jahr 2499 versetzt, erlebt sie eine Gesellschaft mit vertauschten Gender-Rollen. Gleich geblieben ist nur, dass der Mann nach einigen Jahren seine mit ihm gealterte Frau gegen eine jüngere austauscht. Aus der Hypnose wieder erwacht, nimmt sie, offenbar geläutert von ihren feministischen Idealen und ihrem Vortrag, mit den Worten "Ist dummes Zeug! Er soll ungeschrieben und ungehalten bleiben!" Abschied. Bemerkenswert an der Zukunftsvision ist allerdings ihre ökologische Dystopie. So sind Tiere weitgehend ausgestorben, "Blumen und Früchte" bekommt man nur noch selten "gegen schweres Geld" zu sehen und auf dem Mars werden Kolonien gegründet, "denn der Boden dort ist noch reich an nahrhaften Bestandteilen, die Luft klar und prächtig, während man hier ja kaum noch atmen kann".

Die Kurzgeschichte Dora Dyx' erweist sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als antifeministisch. Dass die Mütter in dem von ihr wohl tatsächlich als Utopie gemeinten Gesellschaftsentwurf "eine besondere Ehrenstellung in der Gemeinschaft der Menschen einnehmen", ist zwar zunächst einmal mit der Mehrheitsposition des gemäßigten Flügels der zeitgenössischen Frauenbewegung vereinbar. Bis zu einem gewissen Grade selbst noch, dass es in Dyx' Zukunftsgesellschaft "die große Ambition der Mädchen sein [wird], Mütter zu werden". Dennoch ist auch dieser Text nicht als feministisch zu klassifizieren. Denn die Mutterschaft als 'Berufsziel' für junge Mädchen wurde um 1900 ebenso wie heute vor allem von den konservativsten Antifeministen propagiert, während der radikale Flügel der Frauenbewegung die Glorifizierung der Mutterschaft nicht teilte. Auch "daß der aktive Eintritt der Frau in den Kampf ums Dasein viel dazu beigetragen hat, das Liebesbedürfnis der Frau herabzumindern", klingt nicht eben feministisch, und dies umso mehr, da Dyx Liebe als "freieste[s] Gefühl" preist, das "unserer Seele gegeben" ist.

Doch nicht nur der feministische Inhalt der Erzählungen ist fraglich, sondern ebenso, ob sie - wie im Untertitel des Buches ebenfalls behauptet - ausschließlich von Frauen verfasst wurden. Wieso der Herausgeber hinter dem Monogram H. W. eine Autorin vermutet, erläutert er nicht. Zudem erschließt sich durchaus nicht, was die von H. W. verfasste Kurzgeschichte "Das Ewig-Weibliche im Jahr 2500" als feministisch oder utopisch qualifizieren soll. Titel und Inhalt der Geschichte deuten jedenfalls eher auf eine Männerfantasie hin.

Ebenso wenig begründet Münch, wieso er hinter dem von ihm zum Pseudonym erklärten Namen E. Tanne eine Frau vermutet. Immerhin aber handelt es sich bei dem Text "Die Frauenwelt vom Mars" (1910) ganz unabhängig vom Geschlecht seineR AutorIn tatsächlich um eine offenbar als feministisch gedachte Utopie, die allerdings mit ihrem differenzfeministischen Tenor bedenklich essentialistische Töne anschlägt. Doch gerade diese goutiert der Herausgeber besonders. Denn Tanne, so freut er sich, zeige "die deutliche Unterschiedlichkeit des Seelenlebens von Mann und Frau, die heute ja längst wissenschaftlich bewiesen und populärwissenschaftlich hervorragend in dem Buch 'Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken' von Allan & Barbara Pease (1998) dargestellt ist". Dass ein Diplomchemiker nicht auf der Höhe der Genderforschung und des geschlechterpsychologischen Diskurses ist, kann man ihm vielleicht nicht verübeln, dass ein Buch sich einen populärwissenschaftlichen Anschein geben kann und gleichwohl dem fantastischen Genre zuzurechnen ist, sollte er allerdings doch erkennen können.

Besonders angetan ist Münch davon, wie die Menschen auf Tannes Mars mit dem "Prämenstruellen Syndrom (PMS)" umzugehen pflegen. Denn auf dem roten Planeten muss sich eine "kranke Frau" drei bis vier Tage vor Beginn ihrer Menstruation im "Periodenhaus" einfinden "und dort noch 8-10 Tage nach dem Aufhören derselben verbleiben". Jemand, "[d]er eine Schwester oder eine Partnerin hat, die sehr stark unter dem PMS leidet und dementsprechend zu heftigsten Gefühlsausbrüchen neigt, wird diesem Vorschlag durchaus etwas abgewinnen können", räsoniert Münch im Nachwort, Was soll man da noch sagen?


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Die Frau der Zukunft vor 100 Jahren. Fünf vergessene feministische Utopien aus den Jahren 1899-1910 zur Emanzipation und Frauenwelt der Zukunft.
Herausgegeben von Detlef Münch.
Synergen Verlag, Dortmund 2007.
110 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783935634717

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