Kafka konträr

Der Literaturwissenschaftler Klaus Hermsdorf schildert in seinen Erinnerungen Konferenzen und Konflikte um Franz Kafka in der DDR

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im März 2006 die Nachricht vom Tode des Literaturhistorikers Klaus Hermsdorf (geboren 1929) vermeldet wurde, war einhellig auf dessen Teilnahme an der 1963 in Liblice bei Prag stattgefundenen Kafka-Konferenz hingewiesen worden. Nicht nur, aber auch in dieser Hinsicht ist der Untertitel seines Buches über "Kafka in der DDR" zu verstehen: "Erinnerungen eines Beteiligten".

In seinen auch stilistisch äußerst lesenswerten Betrachtungen handelt Klaus Hermsdorf einen Zeitrahmen von 1954 bis 1983 ab. Er schildert Lehr- und Studienbedingungen der jungen DDR, aber auch seinen Lehrer Alfred Kantorowicz, der im August 1957 überraschend nach Westdeutschland geflohen war. Als bewusst parteilos gebliebener angehender Literaturwissenschaftler beschreibt Hermsdorf die Last ideologisch-philologischer Debatten, die in gewisser Weise die Expressionismus-Diskussion der 1920er- und 1930er-Jahre fortsetzten.

Ihn interessierte, aus einer wissenschaftlichen Nüchternheit heraus, die mögliche Fruchtbarkeit einer marxistischen Literaturwissenschaft - um immer wieder feststellen zu müssen, dass es eine solche sui generis gar nicht gab. Vielmehr unterlagen endlose Diskussionszirkel den jeweiligen Direktiven immer wieder wechselnder Parteirichtlinien.

In dieser Gemengelage, hin- und hergerissen zwischen dem stalinistischen Ideal eines "sozialistischen Realismus" einerseits und dem antibürgerlichen Elan in den kunstrevolutionären Experimenten der Moderne andererseits, stößt Hermsdorf auf Franz Kafka. Im Dezember 1956 reist er erstmals ganz offiziell nach Prag und sieht sich erfolgreich in den Archiven um. Unter lebhafter Anteilnahme von Peter Huchel kann Klaus Hermsdorf in der Zeitschrift "Sinn und Form" 1957 seinen ersten wissenschaftlichen Kommentar zu bislang unveröffentlichten Briefen von Franz Kafka an die Direktion der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt veröffentlichen.

In Prag begegnet Klaus Hermsdorf unter anderem den Germanisten Eduard Goldstücker und Kurt Krolop. Die geschilderten Begebenheiten ergänzen bisher vorliegende Berichte über eine sonderbare Zeit. Ablauf und Hintergründe der berühmten Kafka-Konferenz von 1963 erhalten durch Hermsdorfs Erinnerungen inhaltlich neue Akzentuierungen, aber nicht zuletzt auch atmosphärisch neue Einsichten. Auf jener legendären Kafka-Konferenz hatte im Anschluss an das Referat von Hermsdorf der Chefredakteur der Prager Literaturzeitschrift "Plamen" [Die Flamme] Jirí Hájek ungewöhnlich polemisch geantwortet. Es sei nicht zulässig, Kafka dadurch zu entschärfen, indem er philologisch-exakt historisiert werde. Vielmehr müsse die unmittelbare Aktualität Kafkas gerade auch für den Menschen im realen Sozialismus begriffen werden.

Hermsdorf wundert sich noch in seinen Erinnerungen über die Schärfe der Replik des Literaturkritikers und Publizisten Jirí Hájek. Die später kolportierte Überlieferung, Hermsdorf habe Kafka gewissermaßen aus der DDR heraushalten wollen, gab in der Tat Hermsdorfs Wortmeldung nicht her. Im Übrigen handelt es sich bei diesem Jirí Hájek - hier irrt Klaus Hermsdorf! - nicht um den gleichnamigen Diplomaten und späteren Außenminister unter Alexander Dubcek. Dass der "Kafka-Hájek" hingegen in späteren Jahren zum ideologischen Dogmatiker mutierte, ist Hermsdorf ebenso entgangen wie Hájeks Buch "Demokratisierung oder Demontage?", in dem er mit den Prager Reformern von 1968 hart ins Gericht geht. Von der Kafka-Konferenz als Vorbotin ideologischer Reformen schreibt Hájek hier nichts mehr und verschweigt somit auch seine einstmals vehemente Teilnahme.

Dass es in der DDR dann nach langen Jahren interner und zermürbender Bemühungen erstmals 1965 zu einer Kafka-Ausgabe gekommen war, rechnet sich Hermsdorf zurecht nicht ohne einen gewissen Stolz mit als Erfolg an. Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren schienen Kafkas Texte in der literaturwissenschaftlichen Einschätzung von DDR-Wissenschaftlern als Teil in den "Entwicklungslinien im deutschsprachigen Roman der neueren Zeit" angekommen zu sein.

Freilich erstreckten sich derlei Öffnungen, wie Hermsdorf anhand der Daten seiner veröffentlichten Stellungnahmen zeigt, über Jahrzehnte hinweg: "Mehr als im Falle anderer Autoren scheint das Kafka-Bild in den Darstellungen der Geschichte der deutschen Literatur ein Spiegel kulturpolitischer Wetterlagen, aber auch ein Indiz für kontroverse Auffassungen in der Germanistik der DDR" gewesen sein. Unterirdisch, so Hermsdorf, hatte jedoch die legendäre Prager Kafka-Konferenz in der DDR weiter fortgewirkt.

Sonderbarerweise ist in den vorliegenden Erinnerungen mit keinem Wort erwähnt, dass sich die Wege der ehemaligen Kafka-Kollegen ein weiteres Mal kreuzten, als vom 24.-27. November 1992 im Prager Goethe-Institut ein internationales Kolloquium zum Thema "Kafka und Prag" stattgefunden hatte. "Dreißig Jahre später" überschrieb Eduard Goldstücker seine Bilanz, und Klaus Hermsdorf untersuchte in seinem Referat "Zwischen Wlaschim und Prag" die Stadt-Land-Antinomien bei Franz Kafka und Max Brod.


Titelbild

Klaus Hermsdorf: Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten.
Theater der Zeit, Berlin 2007.
284 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783934344938

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