Streifzug durch jüdische Orte

Michal Kümper, Barbara Rösch, Ulrike Schneider und Helen Thein präsentieren in einem Essayband 30 verschiedene jüdische Orte und Räume

Von Claudia NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was sind jüdische Orte? Wie werden Orte zu spezifisch jüdischen Orten? Werden sie dazu gemacht und wenn ja, wie und warum? Um die Beantwortung dieser Fragen bemüht sich der von Michal Kümper, Barbara Rösch, Ulrike Schneider und Helen Thein herausgegebene Band, der auf das Potsdamer Graduiertenkolleg "Makom. Ort und Orte im Judentum" zurück geht, das kürzlich seinen Abschluss fand. Das vorliegende Buch versammelt in diesem Rahmen entstandene Projekte und zeigt die Vielfältigkeit dessen auf, was man unter einem Ort verstehen kann.

Auffallend ist die ansprechende grafische Gestaltung des Essaybandes, der sich als "Gesprächsangebot" versteht und ein "breiteres Publikum" einladen möchte, sich der Frage nach den jüdischen Orten zu stellen. Aus diesem Grund wurde auch die Textsorte des Essays gewählt, um "eine These zu erproben und ein Thema in zugänglicher Sprache darzustellen", so die Herausgeberinnen. Jedem Essay sind ein Schlagwort und eine Abbildung vorangestellt, die auf den behandelten Ortsbegriff verweisen, der real, abstrakt oder imaginär sein kann. Diese Schlagwörter sind zum Teil Termini, die mit dem Judentum assoziiert werden wie Schtetl, Kabbala oder Diaspora. Daneben finden sich aber auch Begriffe wie Öffentlichkeit, Gartenstadt oder Grenze, die in den Essays als jüdische Begriffe herausgearbeitet werden. Um das Kaleidoskop des Ortsbegriffes aufzuzeigen und keine Hierarchisierung vorzunehmen, erscheinen die Essays in alphabetischer Reihenfolge der Schlagwörter. Dies eröffnet dem Leser die Möglichkeit, die Essays in einer von ihm gewählten Abfolge zu lesen, die einzelnen Orte zu entdecken und miteinander zu verbinden. Verknüpfungen und Wiedererkennungseffekte gibt es dabei zahlreiche, da sich die Beiträge sehr gut ergänzen und somit zugleich verschiedene Sichtweisen auf bestimmte Orte darbieten. Abgerundet wird der Band durch ein hilfreiches Begriffsglossar und ein Personenregister, die eine schnelle Orientierung und das Verständnis der einzelnen Essays ermöglichen.

"Makom" lautet ebenfalls schlagwortartig der Titel des Bandes und ist der hebräische Begriff für "Ort, Platz", trägt aber eine Bedeutungsvielfalt in sich, die über den realen Ort hinausgeht. HaMakom, "der Ort", ist auch eine der über siebzig Ersatzbezeichnungen für Gott, dessen eigentlicher Name als unaussprechlich gilt. Dieser Name, der es erlaubt, Gott im Gebet anzusprechen, tauchte nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem auf. "Der reale Ort des Heiligtums, selbst schon bald mit dem abstrakten Begriff HaMakom bezeichnet, wird fortan zum imaginären Ort, der im Denken und Ritus des Gläubigen weiterbesteht und mit ihm in gewisser Weise auch dessen ehemaliger, vor der Zerstörung ausgezogener Bewohner - Gott." Diese Verwandlung eines realen Ortes wird in der Mehrzahl der Beiträge aufgezeigt. Reale Orte wie Prag, Paris oder Berlin werden im Laufe der Zeit zu imaginären Orten, mit denen sich bestimmten Vorstellungen und Stimmungen verbinden.

So ist Berlin auch eine der Städte, die Anfang des 20. Jahrhunderts als "Stadt und Mutter in Israel" (Ir waEm beJisra'el) bezeichnet wurden. Ein Name, mit dem Orte belegt wurden, die zur Heimat für das in der Diaspora lebende jüdische Volk geworden waren. Berlin kristallisierte sich in jener Zeit als wichtiges kulturelles Verbindungszentrum zwischen den osteuropäischen und westlichen jüdischen Gemeinden, vor allem der Vereinigten Staaten, heraus. Die Entwicklung des Scheunenviertels zu einem religiösen, politischen und sozialen Zentrum, in dem sich viele jüdische Einwanderer aus Osteuropa niederließen, fällt in jene Zeit. Dass damit auch Auseinandersetzungen zwischen Ostjuden und den in Deutschland lebenden westlich orientierten Juden verbunden waren sowie Fragen des Heimatverlustes, großer sozialer Unterschiede, der Identität und Fremdheit, tritt bisweilen in den Hintergrund, wenn man dieser Zeit erinnert. Und so wird auch heute den Berlinbesuchern das Scheunenviertel als das blühende jüdische Viertel vom Beginn des 20. Jahrhunderts präsentiert.

Eine ähnliche Umdeutung und positive Interpretation hat die Geschichte der spanischen Juden im Mittelalter erfahren. Über mehrere Jahrhunderte lebten dort Juden, Muslime und Christen in einer sich gegenseitig befruchtenden Symbiose unter Beibehaltung der jeweiligen Traditionen und Riten. Sepharad wurde zum Ideal, an dem sich die jüdische Aufklärung im 19. Jahrhundert orientierte, um die Integration der jüdischen Bevölkerung in die entstehenden Nationalstaaten und die Herausbildung einer neuen jüdischen Identität zu befördern. Die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 und damit verbundene Zwangskonversionen und Gewaltakte wurden ausgeblendet beziehungsweise umgedeutet. Der reale Ort Spanien wurde somit zu einem imaginären Ort, einem Modell, das Orientierung bot.

"Stadt und Mutter in Israel" bezeichnet also einen Ort, der zur Heimat geworden ist. "Heimat" steht als Schlagwort einem Essay voran, findet sich aber in einer Vielzahl der Beiträge reflektiert. Bei ihrer Lektüre fällt auf, dass die sich die Heimat ständig verändert, nur kurzzeitig an einen realen Ort, eine Stadt, gebunden ist, die demnach wieder nur ein Zwischen-Ort auf der Suche nach einer Heimat in der Diaspora ist. Öfter findet sich Heimat als abstrakter Ort in Verbindung mit Sprache, bestimmten Ereignissen oder Stimmungen. Die Erinnerungen und das Gedächtnis der Familie, die glücklichen Tage und die gemeinsame Religion werden mithin zu Orten der Heimat.

Das Nachzeichnen der Entwicklung realer, abstrakter und imaginärer Orte geht in den einzelnen Essays mit einer historischen Darstellungen und Aufarbeitung historischer Momente und kultureller Aspekte des Judentums einher. So gewinnt der Leser nicht nur Detailwissen über einzelne Orte und Räume, sondern einen facettenreichen Einblick in die jüdische Geschichte und Kultur, was die Lektüre dieses Essaybandes zu einem Gewinn werden lässt.


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Michal Kümper / Barbara Rösch / Ulrike Schneider / Helen Thein (Hg.): Makom. Orte und Räume im Judentum - Real - Abstrakt - Imaginär. Essays.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2007.
356 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783487134017

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