Große kleine Freiheit

Michal Witkowskis Roman "Lubiewo" handelt von der polnischen Transition aus Sicht der Homosexuellen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Out of the closet" lautete einst die Kampfparole der Schwulenbewegung. Raus aus dem Versteck, und dafür hinein in die Öffentlichkeit. Anstatt sich zu verbergen, wollte man zu seinen sexuellen Neigungen stehen, sie auch offensiv, bisweilen provokativ zur Schau tragen. Doch beim sexuellen Aspekt allein sollte es nicht bleiben: Es galt, einen Lebensstil zu verteidigen, der durch eine ganze Reihe von Einstellungen, Codes und Traditionen geprägt war.

Doch jene Tunten im heutigen Polen, deren Porträt der 1975 in Wroclaw (Breslau) geborene Michal Witkowski in seinem Roman "Lubiewo" zeichnet, wollen die Errungenschaften der Homosexuellenbewegung nicht so richtig genießen. Sie sind noch in einer ganz anderen Epoche sozialisiert worden; ihre Identität haben sie sich unter den widrigen Bedingungen des kommunistischen Volkspolen irgendwie zusammenbasteln müssen. Und nun, unter neuen politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, können sie sich eben gerade nicht mit jenen modernen, emanzipierten, weltgewandten, körperbetonten und stets gestylten "Gays" anfreunden, die mitten im Leben stehen und als Anwälte oder Berater wichtige Jobs haben, die ganz Europäer sind (oder zur Not auch europäische Polen) und jeden Sommer die einschlägigen Badestrände heimsuchen - inzwischen eben auch in Polen. Die alteingesessenen Tunten sitzen derweilen verloren in den Dünen und führen Rückzugsgefechte; sie altern, verlieren ihr Haar und können die Fassade wie auch ihren Lebensstil nur noch mit Mühe aufrechterhalten.

Die Welt von Witkowskis Tunten war und ist eine andere: Sie bewegen sich in lieblos gestalteten Parkanlagen, sie suchen öffentliche Toiletten in der Hoffnung auf ein Abenteuer auf, sie schieben irgendwo in einem düsteren Spital Nachtwache und halten sich ohnehin mehr schlecht als recht über Wasser. Am liebsten haben sie sowieso Heteros, am besten ungebildete - denn sonst sind das keine richtigen Kerle. Umso besser, wenn diese außerdem betrunken sind: Vielleicht merken die Opfer dann nicht einmal, dass gar keine Frau mit ihnen zugange ist. Tunten wie Lukrecja und Patrycja leben am Rand der Gesellschaft, in einer Halbwelt, die ihnen aber immerhin eine eigene kleine Heimat bietet. Ein besonders attraktives Jagdrevier waren für sie früher die Kasernen der in Polen stationierten sowjetischen Soldaten: Doch 1992 kommt mit dem Abzug der letzten russischen Truppen für die polnischen Tunten ein tragischer Epochenumbruch: "Die Tunten verabschiedeten sie mit Taschentüchlein. In jenem Jahr stieg die Anzahl der Selbstmorde unter den Tunten um 35% an."

"Lubiewo" ist deshalb ein Wenderoman eigener Art, beleuchtet er doch quasi nebenbei die polnische Transition seit 1989 aus der Sicht eines ganz speziellen Milieus. Dabei schwingt viel Nostalgie mit, und doch ist der Roman weit davon entfernt, die alten Zeiten zurückrufen zu wollen. Vielmehr ist dies ein wichtiger Beitrag, der das Panorama der neuesten polnischen Literatur ergänzt: Diese ist voll von Porträts ganzer gesellschaftlicher Gruppen, die zu den Verlierern der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen nach dem Ende des Kommunismus gehören. Unlängst hat beispielsweise Daniel Odija in seinem Roman "Sägewerk" die Welt der verfallenden polnischen Dörfer und Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaften gezeigt. Dank Michal Witkowski wird nun noch einmal ein neues, anderes Licht - und ein sehr grelles dazu - auf die polnische Transition geworfen.

Witkowskis Roman ist eine Mischung aus einzelnen Szenen, Gesprächsmitschnitten und -ausschnitten, die vorwiegend in Wroclaw und am Strand von Lubiewo auf der Ostseeinsel Wolin stattfinden. Mitunter lassen sich Stimmen vernehmen, die man nicht eindeutig zuordnen kann. Auch dem Gerücht wird Raum gegeben, das damit als entscheidender Bestandteil der Tuntenkultur gezeigt und zugleich entlarvt wird. Auf formaler Ebene ist dies aber auch die literarische Imitation ihrer Welt, einer Halbwelt, die nirgends Raum findet, sich öffentlich zu äußern - und die dies auch gar nicht will. Witkowskis Tunten trauern eben gerade der Tatsache nach, dass ihre Zwischenwelt nach dem Ende des Kommunismus verschwunden ist: Ihr Dasein in einer Art halb fiktionalisierten Wirklichkeit, deren Fakten und Geschehnisse in der breiten Öffentlichkeit nie ganz enthüllt werden konnten. Aber diese Zwischenwelt, die auf dem Gerücht, dem Gerede und auf Hörensagen basierte, schuf - bei aller Konkurrenz im Kampf um den Kerl - auch ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Tunten. Vor allem aber war sie für die Tunten ein schöpferischer Ort, worin sie in einem ständigen Wechsel von Verbergen und angedeutetem Enthüllen sich selbst in Szene setzen konnten. Damit schöpften sie das Wenige an Spielraum aus, das ihnen blieb; sie lebten auf diese Weise ihre große kleine Freiheit. Am Rand der Gesellschaft führten sie ihr bescheidenes Welttheater der Tunten auf. Vielleicht vermissen die Tunten jetzt nicht umsonst die Konzertmuschel im Park, die wie so vieles aus den alten Zeiten verschwunden ist: Sie war nicht nur ein praktischer Treffpunkt für hastige nächtliche Begegnungen, sondern sie symbolisierte auch das Gespielte und Vorgespielte, das Kreative und Bühnenhafte eines Milieus, das sich abseits der Zentren selbst inszenierte.

Zusammengehalten werden die verschiedenen Teile und Bruchstücke des Romans durch die Erzählerfigur, eine Art fiktionalisierter Michal Witkowski. Er trägt im Buch den (Frauen)namen Michalina, ist Literat und Journalist und sammelt in Interviews und Gesprächen Auskünfte über die polnischen Tunten. Michalina gehört selbst bereits einer neuen Generation von Homosexuellen an und erhofft sich gerade deshalb einen Einblick in die ausklingende Epoche. Die Berichte, die er zusammenträgt, sind für ihn so etwas wie Lektionen in Tuntenkunde, wenn man so will. "Lubiewo" ist aber gewiss nicht einfach ein soziales und historisches Zeitdokument, denn die dargestellten Figuren sind fiktiv. Auch Michal Witkowski selbst ist Journalist und Schriftsteller - und dies sind auch die beiden Pole, die sein Buch prägen.

Michal Witkowskis Roman ist tragisch-komisch (wobei sich die Waage deutlich gegen das Tragische neigt), er ist dabei durchaus auch von Sympathie seinen "kleinen" Heldinnen gegenüber getragen, er fährt bisweilen mit einer drastischen Sprache auf - und vor allem bringt er eine humor- und liebevoll ironische Klassifikation der polnischen Tunten.


Titelbild

Michal Witkowski: Lubiewo. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Christina Marie Hauptmeier.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
338 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419298

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