Echte Paradoxa und falsche Wirklichkeiten

Längst überfällig: endlich liegt eine Sammlung mit Vorträgen und Essays des bedeutenden russischen Gelehrten Sergej Averincev (1937-2004) in deutscher Sprache vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch die Geisteswissenschaften waren in der Sowjetunion der marxistisch-leninistischen Parteilichkeit verpflichtet. Unter einem ideologischen Eispanzer konnten sich dennoch Gelehrte von internationalem Rang wie Dmitrij Lichatschow, Boris Uspenskij, Boris Gasparov oder Jurij Lotman etablieren.

Auch Sergej Averincev (1937-2004) gehört zu jenen unabhängigen Geistern, deren akademische Karriere sich außergewöhnlichen Bedingungen ausgesetzt sah. Nach seinem Studium der klassischen Philologie, das Averincev mit einer Dissertation über Plutarch abgeschlossen hatte, kam er zunächst am "Institut für Geschichte und Theorie der Kunst" unter und konnte ab 1969 bis 1992 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften in Moskau arbeiten. 1994 bis 2003 war Sergej Averincev als Ordinarius am Institut für Slawistik der Universität Wien tätig.

Die vorliegende Sammlung von 15 Essays und Vorträgen dokumentiert die ungewöhnliche Bandbreite der Forschungsgebiete von Sergej Averincev, der neben seiner Tätigkeit als Literatur-, Kultur- und Religionswissenschaftler auch als Dichter und Übersetzer hervorgetreten war.

Besonders bestechend sind diejenigen seiner Arbeiten, in denen sich die dargestellte philologisch-kulturwissenschaftlichen Zusammenhänge aus einer ungewöhnlichen Belesenheit speisen. Ein Beispiel dieser faszinierenden Fähigkeit Averincevs, unsichtbare Verbindungen in plastischer Weise aufzuzeigen, findet sich in seinem Beitrag "Goethe und Puschkin (1749-1799-1999)". Die Abstufungen der Lebenszeit der Dichter vor dem kulturellen Hintergrund offenbart Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, denen sich Averincev zu nähern versucht. Beide sieht er vor die große denkerische Herausforderung der Aufklärung gestellt. Beide verteidigen dieses Erbe gegen die irrationale Herausforderung der aufkommenden Romantik. Und doch finden sich im Bereich des Religiösen, bei Johann Wolfgang Goethe auch in Form eines Bezugs zur Natur, Topoi, welche ihre Abweisung des kaltnüchternen Verstandes untermalen: "Der systematische rationalistische Negativismus à la Voltaire war für Goethe wie für den reifen Alexander Sergejewitsch Puschkin unakzeptabel". Als Vertreter einer Moderne, die von der Unverzichtbarkeit sinnlich erfahrbarer Wirklichkeit weiß, teilten zugleich Goethe wie auch Puschkin das Bewußtsein einer Wesenseinheit des unmittelbar menschlichen Geschicks mit überschreitenden Universalien.

Seine russisch-deutschen Gegenüberstellungen in der Literatur ergänzt Averincev in einem Beitrag über Osip Mandelstam und Ewald von Kleist, oder mit Anmerkungen zu Franz Kafka.

Russland war in Averincevs Denken und Arbeiten von verschiedenen Seiten her betrachtet worden. Als Philologe und Theologe lotete er die byzantinische Tradition aus. In dem Beitrag "Die slawische Apokalyptik" forscht Averincev nach den Wurzeln der tragischen Verirrungen des 20. Jahrhunderts in Russland. Das Hinterfragen gängiger Klischeevorstellungen und zeitgeistiger Kulturmodelle barg für Averincev keine eindimensionalen Antworten: "Diese sonderbarste Mischung von Gescheitheit und Absurdität, von Melancholie und Humor, von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung gegen alle Hoffnung, von Bereitschaft, das Unmögliche zu tun, und Widerwillen, sich um das bloß Mögliche zu bemühen, diese Neigung zu äußersten Extremen von Heldenmut und Zynismus, von Vaterlandsliebe und nationalem Selbsthass, diese lyrische Note, die immer an der Grenze zur Hysterie vibriert, auch diese Mystik - und diese Trunksucht".

Sergej Averincev, der sich wohl eher in der Tradition von Alexej K. Tolstoj als einen "aufgeklärten Konservativen" verstanden hatte, verband neben seinem diszipliniert betriebenen Gelehrtenstudium auch unmittelbar kulturkritische, ja politische Äußerungen. Im vorliegenden Band finden sich Überlegungen zur "Humorlosigkeit des Zeitgeistes" oder "Zum Problem der Globalisierung".

Der sehr persönlich gehaltene Beitrag "Die Solidarität in dem verfemten Gott: Erfahrungen der Sowjetjahre als Mahnung für Gegenwart und Zukunft" bilanziert den Atheismus in der Sowjetunion: "Heinrich Böll erwähnte einmal, wie schwer es ihm war, in der Hitlerzeit die uniformierten SS-Männer auf der Kommunionbank in einer katholischen Kirche zu sehen. Gott sei Dank wurden wir in der kommunistischen Zeit von derartigen Erlebnissen ziemlich gut beschützt".

Eine der Lehren, die Averincev aus diesen Erfahrungen gezogen hat, ist die kritische Erkenntnis, dass Konformität alle wohlfeilen Denk- und Handlungsangebote gefährden kann. Auch liberale Demokratien sind, Demut gehört nicht zum Zeitgeist, vor träger Selbstgefälligkeit nicht gefeit.


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Sergei Awerinzew: Die fremde Sprache sei mir eine Hülle... Essays und Vorträge.
Verlagshaus Pereprava, Wien 2005.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3950176942
ISBN-13: 9783950176940

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