Die Archäologie der Schönheit

Kersten Flenters Buch "Junkie-Ufer"

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe "10 + 1 Stories" veröffentlicht der Killroy Media-Verlag Autoren der "Social Beat"-Szene. Social Beat, seit dem gleichnamigen Festival 1993 in Berlin in der deutschen Literaturwelt ein Begriff, ist immer Konfrontation. Konfrontation mit dem, was in der bürgerlich geprägten, schöngeistigen Literatur des deutschen Kulturestablishments zu kurz kommt, was verleugnet wird, vor dem gerne die Augen verschlossen werden: Das Schmutzige, das Asoziale, das Aussichtslose. In der Social Beat-Literatur wird diese Lücke geschlossen. Hier finden die Verlierer, die Alkoholiker und Drogensüchtigen der deutschen Hinterhöfe erstmals ihren Platz.

Kersten Flenter ist ein Social Beat-Autor, doch er ist noch mehr: Während dieser Begriff mittlerweile in zunehmenden Maße mit oftmals dilettantisch verfassten Texten über Bierkonsum und die eigene Depressivität gleichgesetzt wird, schafft es Flenter, auch im schlimmsten Elend und der aussichtslosesten Lage noch Hoffnung zu finden, die Gewissheit, dass der eigene Weg richtig ist und alles irgendwie funktionieren wird.

Obwohl der Band mit "Erzählung" untertitelt ist, besteht er doch aus mehreren kurzen Geschichten, von denen einige zur Haupthandlung gehören. Andere jedoch reißen anekdotengleich aus der Geschichte aus und verfolgen die Wege der einzelnen Figuren weiter oder beschreiben Randbegebenheiten der Szenerie. Ermöglicht wird dies durch die wechselnde Erzählperspektive: Die Handlungen gehen über das begrenzte Wissen des Ich-Erzählers Kay hinaus, und so werden einige Geschichten, bei denen Kay nicht anwesend ist, einfach in der dritten Person weitererzählt.

Die Hauptfiguren sind drei Freunde: Henry, Stroganow und der Ich-Erzähler Kay, alles zwielichtige Gestalten, die den alten Bettler Robert Johnson und die Drogenabhängige Luna bei sich aufnehmen. Aus dieser zunächst ungeordnet und emotionslos erscheinenden Beziehungssituation wird eine harte Prüfung, als Luna schwanger wird. Nicht alle halten zu ihr, einige flüchten und drücken sich vor der Verantwortung.

Die Stärke des Buches liegt jedoch nicht in der eigentlich trivialen Handlung, sondern in der Tatsache, dass Flenter trotz aller Rückschläge und Niederlagen, die er die Figuren - stellvertretend für ihre vielen Leidensgenossen - erleben lässt, immer auf die positiven Aspekte hinweist, auf das, was bleiben wird. Von existenzieller Bedeutung sind die wenigen schönen Momente, die sich in den kleinsten, scheinbar unbedeutendsten Details manifestieren und die der Autor in einer "Archäologie der Schönheit" sammelt, die über eine desillusionierte "alles-ist-schlecht"-Einstellung hinausgeht. In diesen seltenen Augenblicken erkennen die Personen das Wahnsinnige ihrer eigenen Existenz und werden so befähigt, sich ihrer Freiheit bewusst zu werden und dadurch die Stärke zu finden, ihre Situation auch weiterhin zu akzeptieren.

Flenter schreibt in einer Sprache, in der die Bilder und Metaphern unverbraucht und lebendig wirken, er ist ein sehr genauer Beobachter, der große Zusammenhänge und winzige Einzelheiten in eine unmittelbare Beziehung zu setzen weiß. Die Dialoge versetzen den Leser sofort zu den Figuren auf die Strasse, in den Keller, in den Park. Die Gespräche wirken nie gekünstelt, sondern strahlen eine hohe Authentizität aus. Flenter weiß, wie man und wovon er redet.

Seine Charaktere haben jenen gewissen Charme, der ihre Schrullen und Macken, ja sogar ihr Außenseitertum liebenswert erscheinen lässt. Es wird nie der Eindruck vermittelt, dass dies hilfsbedürftige Personen seien oder dass sie irgendwie versuchen sollten, aus ihrer Lage, ihrem Elend, ihrem Leben auszubrechen. Vielmehr besteht ihr Anspruch darin, diese Art des Lebens aufrecht zu erhalten, die sie als frei und selbstbestimmt empfinden - fernab von geregelten Tagesabläufen und sozialen Sicherheiten - und in dem sie sich wohlfühlen, auszukosten. Am deutlichsten wird diese Einstellung in dem eingefügten Interim "Cut: Die Archäologie der Schönheit", einem Prosagedicht, das den stärksten Text dieses Buches darstellt und die Stimmung auf den Punkt bringt: "Die großen Alleen sind leergefegt, aber hier in den Seitenstraßen werden die kleinen Legenden geschürt. [...] eine Stimme sagt, geh weiter, vertraue deinen Schritten, und der Himmel über dir ist eine wärmende Zeltwand, und wenn du die Augen schließt, siehst du Sonnenuntergänge, die auf die Innenseite deiner Lider tätowiert sind, und du kannst ja noch lächeln.[...] Schönheit ist versteckt in Räumen ohne Kerzenlicht."

Flenter, vor Jahren einmal als neuer Star des deutschen Underground gerühmt, ist kein Kämpfer, und dieses Buch ist kein Kampfaufruf mehr, wie es die alternative Literatur vielleicht vor ein paar Jahren noch für sich in Anspruch genommen hat. Er will nicht schockieren, sondern ist ein Geschichtenerzähler mit Herzblut, dessen Erzählungen in einem ungewöhnlichen Milieu angesiedelt sind, der mit diesem ehrlichen Buch zeigt, was Social Beat eigentlich meint.

Titelbild

Kersten Flenter: Junkie-Ufer. Erzählung (10+1 Stories).
Killroy Media, Asperg 2000.
79 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3931140229

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