Schnecke mit Flügeln

Nikola Müller und Isabel Rohner legen mit "Schicksale einer Seele" den zweiten Band der "Edition Hedwig Dohm" vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihren Jungmädchen-Gedichten habe sie sich "kühnlich" mit Prometheus verglichen und "dem Geier" unverzagt ihre Leber preisgegeben, bekannte eine gewisse Marlene ihrem "geliebteste[n] Freund" Arnold und bezeugte damit zugleich ihre humanistische Bildung. Oder etwa nicht? Später gestand sie jedenfalls ein, "nicht einmal die griechischen Klassiker gelesen" zu haben. Und bekanntlich war es auch gar nicht ein prosaischer Geier, der den feuerspendenden Titanen malträtierte, sondern ein weit edleres Tier: Jupiters Adler. Geier taten sich hingegen an der Leber eines anderen Titanen gütlich. Homer bot ihnen in der "Odyssee" die Leber des zu diesem Zeitpunkt allerdings schon in der Unterwelt weilenden Tityos zum Male dar.

Wie konnte Marlene diese Verwechslung unterlaufen? Könnte es sein, dass auch die eher ruhige Marlene ähnlich wie viele weit rebellischere Geister der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich an Friedrich Nietzsche begeisterte und etwa dessen "Geburt der Tragödie" gelesen hat, deren Titelvignette den sich befreienden Prometheus zeigt, unter dessen Fuße ein von Herkules´ Pfeil hingestreckter Geier - und nicht etwa einen Adler - sein Leben ausgehaucht hat? Das scheint umso naheliegender, als Marlenes literarische Mutter Hedwig Dohm als eine glühende Verehrerin Nietzsches wohl nicht nur dessen seinerzeit bei der aufbegehrenden Jugend beliebtestes und erfolgreichstes Werk, den "Zahratustra", vermutlich im Schlafe aufsagen konnte, sondern sicher auch seinen zwischen zwei Buchdeckel geklebten Abschied von der Klassischen Philologie kannte. Und doch konnte - die, wie wir nun wissen, fiktive - Marlene die kaum holzschnittartig zu nennende Titelvignette der "Geburt der Tragödie" unmöglich kennen. Denn Dohms Protagonistin verfasst ihre dem Freunde zugedachte Lebensgeschichte bereits im Jahre 1866. Nietzsches Schrift jedoch erschien erst sechs Jahre später. Literarische und andere Texte, die Prometheus' Leber einem Geier opferten, flossen im Laufe der Neuzeit, zumal des 18. und 19. Jahrhunderts jedoch so manchem aus der Feder. Beispielsweise keinem geringeren als Karl Philipp Moritz, der in seiner 1795 publizierten "Götterlehre" berichtet, "der vom Jupiter gesandte Geier" habe an der "immer wieder wachsenden Leber" des am kaukasischen Felsen festgeschmiedeten Titanen "[ge]nagt". Dohm muss mit der Erwähnung des Geiers also weder selbst eine zeitliche Unstimmigkeit unterlaufen sein, noch muss man annehmen, dass sie Marlenes Bildung als irrtumsanfällig darstellen wollte, als sie die Protagonistin ihres Romans "Schicksale einer Seele" von Prometheus' Geier sprechen ließ. Denn Marlene mag zwar nicht die Klassiker gelesen haben, womöglich aber ihren Moritz.

Wie dem auch sei, jedenfalls liegt mit dem Marlenes Geschichte erzählenden Roman "Schicksale einer Seele", nach "Sibilla Dalmar" nun der zweite Band der "Edition Hedwig Dohm" vor. Ähnlich wie bereits im Einleitungstext zum ersten Band betonen die Herausgeberinnen Nikola Müller und Isabel Rohner auch diesmal, dass Dohms Roman nicht einfach biografisch gelesen werden sollte. Vielmehr betreibe die Autorin ein "bewusste[s] Spiel mit den Identitäten", nämlich mit der ihrer Protagonistin und ihrer eigenen. Mindestens ebenso treffend ließe sich von einem Spiel mit dem Genre der (Auto-)Biografie sprechen und dem vermeintlich kunstlosen Schreiben von Frauen. Etwa wenn Dohm Marlene ihrem Freund versprechen lässt, ihre "ganze Lebensgeschichte [...] recht schlicht und einfach" und unter Verzicht auf jegliche Metaphern und Bilder aufzuschreiben. Nicht nur, dass gerade hierzu keine geringe Kunstfertigkeit notwendig wäre, Marlene hält ihr Versprechen zudem kaum eine Zeile lang. So erklärt sie etwa schon bald, sie fühle sich wie eine "Schnecke mit Flügeln", wobei ihr diese allerdings aufgrund des Gewichtes ihres Schneckenhauses wenig nützten. Und später, fast schon gegen Ende des Romans, bittet sie Arnold sogar ganz explizit, ihr zu gestatten, was sie eh schon die ganze Zeit über immer wieder macht: "in Bildern [zu] reden".

Zwar erklärte Dohm in einem Brief, den sie am 8.6.1907 an Rosika Schwimmer richtete, sie habe "[d]ie inneren und äußeren Erlebnisse [ihrer] Kindheit und [ihrer] Jungmädchenjahre [...] getreulich in dem Roman 'Schicksale einer Seele' niedergelegt". Dass die Herausgeberinnen dennoch zurecht davor warnen, den Roman schlicht biografisch zu lesen, belegt das Vorwort, das die Autorin ihrem Buch vorangestellt hat. Hierin erklärt sie, sie habe mit Marlene eine "Repräsentantin" ihrer Generation schaffen wollen, die zwar den "Durchschnitt" überragen, aber doch typisch sein solle. Das ist ihr zweifellos gelungen. Und nicht nur ihre Protagonistin ist typisch, sondern auch ihre Familie und die gesellschaftliche Atmosphäre. Und weithin auch ihr Werdegang. Wie ist dann aber die Aussage aus dem Brief an Schwimmer zu erklären? Die Herausgeberinnen vermuten, Dohm habe wegen "ihres lebenslangen Unwillens, Details ihres Privatlebens in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen", eine "autobiographische Lesart ihres Romans eher begünstigt". Denn die zahlreichen nachweisbaren Unstimmigkeiten zwischen Dohms eigenem Leben und dem ihrer Protagonistin haben dazu beigetragen, die tatsächliche Biografie Dohms zu verschleiern, und zwar nicht nur zu ihren Lebzeiten, sondern bis weit in die Dohm-Forschung hinein. Noch zur Jahrtausendwende wird in manchen neu erschienen Nachschlagewerken und Literaturgeschichten das Jahr 1833 als Dohms Geburtsjahr genannt. Tatsächlich ist es das fiktive ihrer Protagonistin. Dohm selbst wurde zwei Jahre zuvor geboren.

Nicht weniger kunstvoll als der Bilder- und Metaphernreichtum des Werkes ist der Witz, mit dem Marlene Arnold weit mehr als ihre Lebensgeschichte erzählt, wobei ihr nie juvenalischer, nicht selten aber kaustischer Spott oft genug auf sie selbst oder genauer gesagt auf ihr früheres Selbst zielt. So muss es sich denn auch bei scheinbar missglückten Wendungen ("Meine Eltern führten ganz das halb vegetative Dasein.") keineswegs um stilistische Schnitzer - Dohms oder Marlenes - handeln, sie können absichtsvoll und mit einem Augenzwinkern eingefügt worden sein. Wobei Autorin und Protagonistin hier durchaus gemeinsam zwinkern könnten.

Diese Stimmung feinsinniger Ironie durchzieht das Werk auf eine Art, dass man der Ich-Erzählerin kaum glauben mag, wenn sie berichtet, sie habe einen "scherzhaften Ton" nicht vor ihrem sechzehnten Lebensjahr angeschlagen. Später erklärt sie gar, dass sie erst unter dem Einfluss ihrer Mentorin Charlotte "witzig" geworden sei. Eine Freundin, fast wie eine ältere Schwester, die nicht nur eine besondere "Aversion" gegen Marlenes Mann hatte, sondern überhaupt eine "Männerfeindin" war, und schließlich daran zugrunde ging, dass ihr lesbische Neigungen - "ein unnatürliches Laster", wie die Ich-Erzählerin homophob formuliert - nachgesagt wurden.

Neben Metaphern und Ironie strafen auch die zahlreichen bildungsbürgerlichen Zitate und Anspielungen (oder anders gesagt: die Intertextualität des Werks) Marlenes selbst nur mit einem schelmischen Lächeln gegebenes Versprechen Lügen, ihre Erlebnisse "recht schlicht und einfach" aufzuschreiben. So paraphrasiert bereits der Titel des Werkes denjenigen eines anderen.

Auch stechen Übereinstimmungen mit Auffassungen und Haltungen ins Auge, die Dohm in ihren nichtliterarischen Schriften vertritt. Etwa über die Ahnungslosigkeit von Müttern, das Innenleben ihrer Kinder betreffend oder über die Ehe. "Wie wenige Eltern wissen etwas von der Psyche ihrer Kinder," räsoniert Marlene. Ganz ähnlich geißelt Dohm in der "Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst" vom 27.10.1900 die "fast absolute Unkenntnis der meisten Mütter, was den Charakter ihrer Kinder betrifft". Und während "die Schuld an d[...]er Schuld" des Ehebruchs der Romanfigur zufolge "die Ehe selbst 'trägt', da diese oft genug eine Sünde gegen die Natur" bedeute, erklärt Dohm in einer 1907 erschienen Ausgabe der Zeitschrift "Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik" ganz ähnlich: "Nicht der Mann, nicht das Weib, die Ehe trägt die Schuld" an der unglücklichen Ehe.

Keinerlei Übereinstimmung finden sich hingegen zwischen Marlenes "Stich ins Kleinbürgerliche" und Dohms eigener Lebensauffassung und ihren ethischen Vorstellungen. Hat die Protagonistin im Roman doch ausgesprochen konventionelle, um nicht zu sagen konservative Moralvorstellungen, wie etwa ihre Verwunderung darüber zeigt, dass ihre Eltern ihr als Heranwachsender nicht den Umgang mit einem 'gefallenen Mädchen' verboten. Ein "anders geartetes Kind", meint sie, wäre durch den Umgang mit dem "verlorene[n] Geschöpf" "leicht [...] korrumpiert worden".

Zu Beginn ihrer Lebensbeichte hat die fiktive Autobiografin mit ihren 33 Jahren zwar noch nicht die Dantische Lebensmitte erreicht, doch sieht sie sich bereits an einem "Wendepunkt" ihres Lebens angelangt. Dieser schlägt sich auch in einem Bruch oder besser gesagt, einem Umschlag im Roman nieder. Nach dem der Bericht in der Gegenwart der diesen schreibenden Marlene angelangt ist, endet der Roman nicht einfach. Vielmehr erfährt man nun, dass sie tagsüber "die Geschichte meiner Vergangenheit" schrieb, während sie nächtens die Ereignisse des Tages festhielt, die den letzten Teil des vorliegenden Buches bilden, das (wie schon zeitgenössische RezensentInnen feststellten) nun etwas abfällt. Bemerkenswert ist allerdings, dass Marlene nun erstmals explizit über die Diskriminierung der Frauen ihrer Zeit klagt, unter der die begabtesten unter ihnen am meisten litten.

Beschlossen wird das Buch von einem Anhang, der neben einigen etwas zufällig anmutenden Anmerkungen der Herausgeberinnen die zeitgenössischen Rezensionen des Romans enthält, darunter eine Ricarda Huchs, die bekennt, dass ihr "wenig moderne Romane so gefallen [haben] wie dieser".


Titelbild

Hedwig Dohm: Schicksale einer Seele. Roman.
Herausgegeben von Nikola Müller und Isabel Rohner.
trafo verlag, Berlin 2007.
330 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783896265616

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