Reflexionen und Reflexe

"Gender als interdependente Kategorie" bietet neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Esel ist so ziemlich wie der andere, aber nicht ist ein Weib wie das andere", erklärte die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm vor über hundert Jahren mit eben jener provokanten Zungenfertigkeit, für die sie bei ihren meist männlichen GegnerInnen gefürchtet war und für die sie unter FeministInnen noch heute berühmt ist. Zwar hatte sie schon damals das 'ewig Weibliche' als Mythos durchschaut und lehnte überhaupt eine vereinheitlichende Sichtweise auf 'die Frauen', denen ein gemeinsames Wesen eigne, ab. Dennoch hielt sie am feministischen Kollektivsubjekt 'wir Frauen' fest. Gerade als die Zweite Frauenbewegung rund siebzig Jahre später die höchsten Wellen schlug, wurde mit den Einsprüchen lesbischer und farbiger Frauen auch dieses prekär und allerspätestens mit den Schriften Judith Butlers Anfang der 1990er-Jahre unhaltbar.

Kritiken und Erkenntnisse sowohl rebellierender Gruppen und Minoritäten innerhalb des schon damals zahlreiche Strömungen umfassenden, aber immer noch einheitlich gedachten Feminismus' und der Minderheiten während der 1970-er Jahre als auch die Schriften Butlers werden inzwischen in der feministischen Wissenschaft breit rezipiert, aufgegriffen, weiterentwickelt, modifiziert und wirken nicht nur tief in den Mainstream der Feminist und Gender Studies hinein, sondern haben sich auch zu Critical, Diversity, Queer, Lesbian, Gay and Lesbian, Trans, Transgender, Black Women's, Black Queer (und vielem mehr, ad infinitum ist man fast geneigt zu sagen) Studies ausdifferenziert und ausgelagert.

Das heißt allerdings nicht, das alle Fragen beantwortet und alle Kontroversen ausgetragen wären. Im Gegenteil. Der Diskurs oder wohl doch eher die Diskurse toben nach wie vor innovativ. Einen zumindest für den deutschsprachigen Raum nicht unwesentlichen Beitrag hierzu haben Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt und Kerstin Palm nun mit ihrem Buch "Geschlecht als interdependente Kategorie" beigesteuert, mit dem sie "neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität" eröffnen möchten. Fraglos ist ihnen das gelungen, wenngleich man auch nicht alle diese Perspektiven einnehmen oder teilen mag.

Das Buch setzt sich aus einer von den Autorinnen gemeinsam verfassten Einleitung und vier Abschnitten zusammen, für die je eine von ihnen verantwortlich zeichnet; allesamt hochreflexiv. Was allerdings offenbar nicht davor feit, einer typischen (auch Mainstream-)Blindheit zu erliegen, beziehungsweise einer Einäugigkeit der diversen Critical Studies, die sich gerne in einem antiwestlichen Reflex niederschlägt. So bemerken die Autorinnen etwa, dass "Homosexualität in der westlichen Moderne lange als das Andere bzw. Anormale markiert worden ist, womit Heterosexualität zur Norm erhoben wurde", gerade so, als sei dies ein Spezifikum 'unserer' (westlich-europäischen) Gesellschaft. Dass jemand in einem 'westlichen' Land wegen Homosexualität zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist, hat man allerdings schon länger nicht mehr gehört. Ganz anders in so manchem islamisch geprägten Land, das sich hier denn doch eher als Beispiel für "Zwangsheterosexualität, Heteronormativität und erzwungene Zweigeschlechtlichkeit" anbieten würde.

Wie der Titel des vorliegenden Buches erklärt, geht es den Autorinnen darum, "Gender als interdependente Kategorie" zu fassen. Als interdependent bezeichnen sie nicht etwa "wechselseitige Interaktionen zwischen Kategorien", vielmehr konzeptionalisieren sie die "soziale Kategorien selbst als interdependent". Dass die Autorinnen in der Einleitung kurze Vorabdefinitionen dieses und anderer zentraler Begriffe wie Diversity und Intersectionality bieten, ist umso mehr zu begrüßen, als sie sich der Problematik solcher (Vorab-)Definitionen sehr wohl bewusst sind.

Der Band ging aus der Vorbereitung des Kolloquiums "Geschlecht als interdependente Kategorie" hervor, das im November 2005 am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. "Zusammengefasst" bieten seine Texte ein "neues integrales Konzept zu Interdependenzen," das "unterschiedliche Aspekte fokussier[t] und differenziert analysier[t]", versichern die Autorinnen in der Einleitung. Und das ist nicht zuviel versprochen.

Das Ziel des Bandes ist, zur Beantwortung der Frage beizutragen, wie "Kategorien sozialer Ungleichheiten" in "analytisch produktiver Weise zusammengedacht" werden können. Hierzu unternehmen die Autorinnen aus Sicht ihrer unterschiedlichen Fachrichtungen Reflexionen zur Intersektionalität und zu disziplinenübergreifenden Ansätzen. Über dieses theoretische Anliegen hinaus möchten sie mit ihrem Buch in die Debatten zur Sektionalität eingreifen, und zwar "insbesondere bezüglich der Konsequenzen für politisches Handeln" und last not least geht es ihnen darum einen "kritisch-reflektierten Sprachgebrauch" zu forcieren.

Dieses letzte Anliegen führt zu manch sperrigen Schreibweisen - nicht nur im Vorwort, sondern insbesondere in einzelnen Beiträgen -, die nicht von ungefähr in Hornscheidts Textabschnitt kulminieren, gilt ihr Beitrag doch der "[s]sprachlichen Kategorisierung als Grundlage und Problem des Redens über Interdependenzen" und "Aspekten sprachlicher Normalisierung und Privilegierung".

Von diesen nicht immer ganz neuen, doch für viele sicherlich noch immer gewöhnungsbedürftigen Schreibweisen ist der leere Unterstrich "_" innerhalb von Worten noch die einfachste und vor allem die einleuchtendste. "Mit der Begrifflichkeit Gender", erklären die Autorinnen ihn, "wird auch zum Thema, dass es gegenderte Existenzen gibt, wie z.B. Intersexuelle oder Transgender-People, die in dem dichotomen Zwangssystem keinen anerkannten und begrifflich markierten Ort haben. Um diese Leerstelle zu symbolisieren, werden in unseren Beiträgen geschlechtliche Benennungen mit einem Unterstrich ausgewiesen." So wird also etwa von "Mitarbeiter_innen" geschrieben. Mit dieser Schreibweise soll deutlich gemacht werden, "dass die 'Leerstelle' Geschlecht von unterschiedlichen Dominanzverhältnissen, Machtpraktiken und Diskursen erst gefüllt wird". Weil es sich hierbei um eine nachvollziehbare Argumentation handelt und um zu veranschaulichen, wie ein solcher Text aussieht, soll diese Schreibweise für die Rezension übernommen werden, allerdings leicht variiert mit großen Binnen-I. Denn anders als das kleine "i" verweist es nicht nur auf eines der beiden 'anerkannten' Geschlechter. Denkbar wäre allerdings auch die Variante "Mitarbeit_", welche die Endung und somit das Geschlecht offen ließe. Vielleicht wäre sie sogar die plausibelste Lösung.

Verzichten die Autorinnen auch auf das große Binnen-I, so verwendet zumindest Hornscheidt eine andere Majuskel innerhalb eines Wortes: ein großes Binnen-A, und zwar im Wort "HeterAsexualität", um so "eine Differenz nach Gender sichtbar zu machen, die in der traditionellen Benennung Heterosexualität/heterosexuell unsichtbar bleibt, wenn jeweils die generisch maskuline Form als allgemeinmenschliche benutzt wird". Eine einleuchtende Begründung.

Ebenso wie der leere Unterstrich werde auch alle anderen eigentümlichen Schreibweisen von den Autorinnen erläutert. Leider allerdings nicht immer bei deren ersten Verwendung, so dass etwa einige Seiten lang unklar bleibt, wieso die Adjektive "Schwarz" und "weiß" auf unterschiedliche Weise hervorgehoben werden. Wie Walgenbach in dem von ihr verfassten Textteil erklärt, soll "die Kursivschreibung von weiß [...] darauf verweisen, dass Weißsein als soziale Konstruktion verstanden wird und nicht als biologische Kategorie". Dies könnte die Vermutung nahe legen, dass schwarz dann ebenfalls kursiv gesetzt wird. Doch dem ist nicht so. Statt dessen wird es stets groß geschrieben, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es sich um einen "politischen Begriff" handelt.

Unterstriche wiederum werden nicht nur innerhalb von Worten, sondern auch verbindend zwischen Worten verwandt. Eine Variante, die von Antje Hornscheidt eingeführt wird. In ihrem Text markiert sie Sprecher_Innenpositionen, in dem sie die "Kategorisierungen Staatsbürger_innenschaft, Weißsein und Gender zusammen und mit Unterstrichen verbunden" zur Verortung der "zitierten und referierten Quellen" benennt. So wird etwa Althusser als "weiße[r]_westeuropäische[r]_Philosoph" und Butler als "weiße_U.S.amerikanische_Philosophin" markiert und zugleich kenntlich gemacht. Die Markierung Weißsein wird als Kategorisierung "benutzt, um Privilegierungen über Zuschreibungen über Race-Konzepte explizit zu machen", und die "[d]ie Kategorisierung Staatsbürger_innenschaft markiert hier Aufenthaltsrechte und die damit verbundenen Privilegierungen hinsichtlich Bildungszugänge". Nun ist Wissen, wie Hornscheidt einerseits selbst betont, zwar "immer situiert" und sollte darum auch "als solches gekennzeichnet" werden, doch markiert sie die Situiertheit einer Sprecher_Innenposition andererseits ganz bewusst nicht immer, sondern ausdrücklich nur, wenn sie weiß und 'westlich', das heißt westeuropäisch beziehungsweise U.S.-amerikanisch, ist. Dies setze deren privilegierte Positionen zwar fort, doch werde diese Privilegierung wenigstens explizit gemacht und somit ihres "Status des Universellen enthoben".

Bei all dem handele es sich um einen "temporäre[n] und weiterzuentwickelnde[n] Versuch", den Hornscheidt als "nicht unproblematisch" erkennt. Diesem Befund ist zuzustimmen. Nicht nur, weil die stete Hervorhebung der Sprecher_Innenposition die Aufmerksamkeit auf diese konzentriert und von den Inhalten der Aussagen ablenkt, sie sozusagen ins zweite Glied rücken, sondern auch weil Sprecher_Innenpositionen, entgegen Hornscheidts eigener Feststellung, dass diese immer situiert seien, eben nicht immer als solche gekennzeichnet sind, sondern nur dann, wenn sie (der Autorin) als privilegiert gelten, also als weiß und 'westlich' markiert werden können. Doch stellt sich die Frage, ob die so gekennzeichneten Positionen nicht ganz entgegen Hornscheidts Annahme nicht noch einmal privilegiert, sondern ganz im Gegenteil als privilegiert diskriminiert und so jeweilige Argumente der Sprecher_Innen beschädigt werden. Während die Situiertheit anderer Sprecher_Innenpositionen unmarkiert bleibt und diese somit privilegiert werden.

Anzumerken bleibt noch zweierlei. Einmal, dass - wie die oben zitierten Beispiel Althusser und Butler deutlich machen - auch die Berufsbezeichnung oder das wissenschaftliche Tätigkeitsfeld mit Unterstrich verbunden werden. Dies allerdings nicht immer. So etwa zwar bei dem "weiße[n]_westeuropäische[n]_Linguiste[n]" Jef Verschueren, aber nicht bei der "weißen_U.S.amerikanischen Linguistin" Eve Sweetser.

Zum zweiten konkretisiert die Autorin die westeuropäische Sprecher_Innenposition gelegentlich als deutsch, etwa, wenn sie von ihrer eigenen "weißen_deutschen Sprecherinnenposition" und ihre "deutschen_weißen Wahrnehmung" spricht. Insgesamt erscheint ihr Markierungsverfahren der Sprecher_Innenposition durch die Worte verbindende Unterstriche doch so problematisch, dass es vielleicht besser nicht weiterentwickelt, sondern aufgegeben werden sollte.

Weitere neue Schreibweisen, welche die Autorin anregt, sollen hier nur kurz erwähnt werden, so etwa der "kreative Gebrauch von Komposita, mit denen Gender als interdependente Kategorie deutlich gemacht werden soll". Als Beispiele nennt sie "ReligionAlterGender" und "SexualitätCitizenshipGender". Außerdem schlägt sie die Schreibweise "Ge_n_d_er" vor, "um so auf die Differenzen und Brüche innerhalb von Gender als Kategorie hinzuweisen".

Hornscheidts sprachtheoretischem Textteil folgt derjenige Gabriele Dietzes, der von Elahe Haschemi Yekani und Beatrice Michaelis mitverfasst wurde. Unter der Überschrift "Checks and Balances" gehen sie "der relativen Abwesenheit von Sexualitäten in der Theoretisierung von Intersektionalität in den Gender Studies" und dem "langen Schweigen zu Intersektionalität in einer eher weißen Genealogie der Queer Theory" nach. Ziel ihrer Ausführungen ist es, Queer Theory und Theorien der Intersektionalität "füreinander als korrektive Methodologien produktiv zu machen".

Kerstin Palms Text geht der Frage nach, "inwieweit auch Ansätze und Überlegungen im Gender-and-Science-Studies-Bereich zur skizzierten Interdependenzen-Debatte beigetragen haben". Hierbei hebt sie zum einen auf die "Subjektebene" ab, "die im Zusammenhang mit dem Objektivitätsparadigma der Naturwissenschaften von besonderer Brisanz ist". Zudem sei eine "Erweiterung der Standpunkttheorien um das Konzept eines aktiven Objekts der Erkenntnis" notwendig. Erst so kann Palm zu folge auch für die Naturwissenschaften eine "adäquate Theorie der interdependenten Perspektivität" gelingen. Dieser letzte Punkt eröffnet eine neue Perspektive, die einigen Erkenntnisgewinn verspricht. Doch sind Palms Überlegungen nur teilweise innovativ. Denn darauf, dass die Kritik an der Prätention wissenschaftlicher Objektivität und Wertfreiheit nicht genuin feministisch, sondern viel mehr ein alter mainstream-Hut ist, hat schon vor einiger Zeit die Politologin Barbara Holland-Cunz in einem von Renate Niekant herausgegebenen Sammelband hingewiesen. Immerhin, erklärt Holland-Cunz, habe schon der "wissenschaftliche Traditionalist" Karl R. Popper erkannt, "dass einzelne WissenschaftlerInnen weder objektiv und wertfrei noch unparteilich sein können, ja dies noch nicht einmal sein sollten".

Der wohl grundlegendste und wichtigste Einzelbeitrag steht gleich zu Anfang des Buches, genauer gesagt: Er folgt unmittelbar dem gemeinsam verfassten Text. Unter dem Titel "Gender als interdependente Kategorie" legt Katharina Walgenbach die ebenso komplexe wie komplizierte Materie der Kategorienkonstellation konzis dar und erörtert, "welche theoretischen Modelle geeignet sind, die konstatierten Interdependenzen sozialer Kategorien und Normierungen zu erfassen". Ungeachtet der nicht wirklich plausiblen Begründung für die unterschiedlichen Schreibweisen von Schwarz und weiß, ist es wohl auch der überzeugendste Textteil. Weitere Bedenken, die man während des Lesens immer mal wieder einwerfen möchte, werden im Laufe der Lektüre stets behoben.

Um "Vorstellung eines 'genuinen Kerns' sozialer Kategorien" zu vermeiden, schlägt Walgenbach vor, von "interdependenten Kategorien" statt von "Interdependenzen" zwischen Kategorien auszugehen. Diese "integrale Perspektive" radikalisiere die "Idee der 'Verschränkung'", "indem Differenzen bzw. Ungleichheiten nicht mehr zwischen (distinkt oder verwoben gedachten) Kategorien wirksam sind, sondern innerhalb einer Kategorie". Hierarchisierungen und Ausblendungen (von Kategorien) sind im wissenschaftlichen Diskurs ebenso wie im politischen und in jedem anderen unvermeidbar und sogar angemessen. Da "die Gewichtung von Kategorien" nun aber von "theoretischen, politischen und sozial geprägten Entscheidungen" abhängen, lauten die entscheidenden Fragen: Wer hierarchisiert (beziehungsweise blendet) wie, wann und warum (was aus).

Zurecht betont Walgenbach, dass Gender - im Übrigen ebenso wie etwa race oder Klasse - "nur historisch und geographisch variabel gefasst werden" kann. Gleiches, so kann man hinzufügen, muss dann sinnvollerweise auch für das Verhältnis der interdependenten Kategorien zueinander gelten.

Die hier vorgebrachten Kritikpunkte und Einwände gegen einzelne Thesen und Vorschläge der Autorinnen, sollten keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem vorliegenden Band zweifellos um eine der innovativsten und somit wichtigsten Publikationen zu grundlegenden Fragen der Gender Studies und der Geschlechterforschung der letzten Jahre - und insofern geradezu um eine Pflichtlektüre - handelt.

Titelbild

Katharina Walgenbach / Gabriele Dietze / Antje Hornscheidt / Daniela Hrzán / Kerstin Palm: Gender als interdependente Kategorie. Intersektionalität, Diversity-kritische Perspektiven aus Gender Studies.
Verlag Barbara Budrich, Opladen 2007.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783866491311

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