Ohne Katharsis

Zwei Bände der französischen Psychoanalytikerin und Literaturtheoretikerin Julia Kristeva

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hierzulande ist Julia Kristeva vor allem durch ihre "Revolutionierung der poetischen Sprache" (1980) und die literaturwissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel "Geschichten von der Liebe" (1989) bekannt geworden. Nunmehr liegen zwei weitere Bücher der französischen Autorin in deutscher Sprache vor, diesmal eher psychoanalytischen Einschlags: zum einen eine Neuausgabe der 1994 erstmals in deutscher Sprache erschienenen Studie "Die neuen Leiden der Seele", zum anderen der Band "Schwarze Sonne. Depression und Melancholie", der offenbar angesichts des Erfolges der bei Suhrkamp verlegten Arbeit über "Geschichten von der Liebe" Anfang der 1990er-Jahre zwar von ebendiesem Verlag angekündigt worden war, dort aber nie erschienen ist. Nun hat der kleine psychoanalytisch orientierte Verlag Brandes & Apsel das Versäumnis des großen Suhrkamp Verlags nachgeholt und den Band zwanzig Jahre nach Erscheinen des französischen Originals in deutscher Übersetzung herausgebracht.

Das Buch gliedert sich in acht Teile, von denen sich die ersten allein der Psychoanalyse widmen, die von der Autorin eingangs als "Gegen-Depressivum" gepriesen wird. Ganz Psychoanalytikerin, fasst Kristeva Melancholie hier nicht etwa als philosophische Haltung oder als Welt- und Daseinsbewältigungsstrategie, sondern als "klinische Symptomatik von Hemmung und Asymbolie", die sie in "weniger stark" ausgeprägten Fällen als "neurotische Depression" bestimmt. Beide Termini bezeichneten einen "Komplex, den man als melancholisch-depressiv benennen könnte", wobei die Psychiatrie "den Begriff der 'Melancholie' der endogenen - und nur durch Behandlung mit Antidepressiva eindämmbaren - Krankheit vorbehält". Insgesamt benutzt Kristeva beide Termini weitgehend synonym, "ohne die Besonderheiten der beiden Affektionen jeweils zu unterscheiden", dafür aber stets mit "Blick auf ihre gemeinsame Struktur".

In der Folge ihrer rein pathologischen Definition der Melancholie nimmt die Autorin "die Freudsche Perspektive" ein und versucht herauszuarbeiten, "was sich innerhalb des wie immer unscharf umrissenen melancholisch-depressiven Komplexes aus einer gemeinsamen Erfahrung des Objektverlusts und einer Veränderung der signifikanten Bindung ableiten läßt".

Ein weiterer Abschnitt gilt "Leben und Tod des Sprechens". Beschlossen wird der psychoanalytische Teil durch "Fragmente" zu "Figuren weiblicher Depression". Hier führt Kristeva die Lesenden nicht mehr in die Tiefen der "Welt der klinischen Melancholie" sondern in die "neurotischen Regionen des melancholisch-depressiven Komplexes". Wie sie betont, verdankt es sich nicht dem "bloßen Zufall", dass sie in diesem Zusammenhang "den Diskurs von Frauen" nicht verlässt. Vielmehr vermutet sie, dass sich in der "größere[n] Häufigkeit von Depression bei Frauen" ein bestimmter "Zug weiblicher Sexualität" offenbart: "ihre Abhängigkeit von dem mütterlichen Ding und ihre geringer ausgeprägte Leichtigkeit im Umgang mit der erquickenden Perversion".

In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich die Autorin stärker der Analyse künstlerischen Schaffens zu. Ihr Interesse richtet sich nun auf Hans Holbeins Gemälde "Der Leichnam Christi im Grabe" und auf die LiteratInnen Gérard de Nerval, Fjodor M. Dostojewski und Marguerite Duras. Die Bücher letzterer solle man "labile[n] Menschen" Kristeva zufolge besser nicht zu lesen geben, denn sie führten nicht nur "an den Rand des Wahnsinns", sondern ließen die Lesenden auch ohne "Reinigung" zurück, ohne "Wohlgefühl" oder das "Versprechen eines Jenseits".

Neben einigen kleineren Irrtümern sticht im Laufe der Lektüre vor allem ein großer ins Auge. Dass Dostojewskis Roman "Die Dämonen" im Jahr 1823 erschienen sein soll - da war der Autor gerade mal in seinem zweiten Lebensjahr angelangt -, kann man als Druckfehler abtun. Nicht so allerdings, dass der "besondere Charakter der Zeitlichkeit der Melancholie" und "der Gedanke", die Depression stehe eher "in Abhängigkeit [...] von einer Zeit als von einem Ort", auf Kant zurückgehe. Eine Behauptung, die gleich doppelt unzutreffend ist. Kristeva führt als Beleg Kants Ausführungen zum Heimweh (ihr zufolge "eine spezifische Variante der Depression") in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798) an, die sie allerdings nur nach der Sekundärliteratur referiert. Hätte sie bei Kant selbst nachgeschlagen, hätte ihr schwerlich entgehen können, dass der sesshafte Weltweise das ihm wohl kaum allzu vertraute Gefühl des Heimwehs als "Wirkung einer durch die Zurückrufung der Bilder der Sorgenfreiheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren erregten Sehnsucht nach den Örtern" fasste, wo diejenigen, die an Heimweh leiden, "die sehr einfachen Lebensfreuden genossen".

Kant privilegiert hinsichtlich des Heimwehs also keineswegs die Zeitlichkeit gegenüber der Räumlichkeit. Den von Kristeva konstatierte[n] "besondere[n] Charakter der Zeitlichkeit der Melancholie" gibt es hingegen sehr wohl, und es gab ihn auch schon lange vor den anthropologischen Überlegungen des Königsberger Aufklärers. Nicht von ungefähr ist in Dürers Stich "Melencholia I" eine Sanduhr an prominenter Stelle zwischen Glocke und Jupiterquadrat einerseits und der Waage andererseits platziert. Und überhaupt ist die Melancholie von Alters her mit Saturn, der römischen Variante des griechischen Göttervater Chronos assoziiert. Da hätte wahrhaftig nicht erst Kant kommen müssen. "Die Aussage, Gegenstand meines Kummers sei weniger jenes Dorf, jene Mutter oder jener Geliebte, die mir hier und jetzt fehlen, sondern die unbestimmte Vorstellung, die ich mir von ihnen bewahrt habe", kommt Kants Auffassung allerdings schon recht nahe.


Titelbild

Julia Kristeva: Die neuen Leiden der Seele.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2007.
268 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783898068390

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Titelbild

Julia Kristeva: Schwarze Sonne. Depression und Melancholie.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer.
Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 2007.
265 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783860997369

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