In schwieriger Lage entscheiden

Erzählungen von Lim Chul Woo

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie besitzen ein Haus, etwas abseits gelegen, zwei Etagen. Unten wohnen Sie, die Wohnung oben steht leer. In manchen Nächten allerdings hören Sie schwere Schritte über sich. Da ist ein Eindringling, der sich gar nicht erst bemüht, sein Tun zu verheimlichen. Die Polizei ist nicht interessiert. Dabei haben Sie Grund zu der Annahme, dass es sich um den Einbrecher handelt, der immer wieder das Viertel heimsucht. Stellen Sie ihn? Oder dulden Sie seine Anwesenheit, in der Hoffnung, dass er wenigstens Ihr Haus, als die Basis seiner Operationen, nicht plündert?

Vor solche Entscheidungen stellt Lim Chul Woo seine Protagonisten in mehreren der zehn Erzählungen, die unter dem Titel „Die Erde des Vaters“ nun in deutscher Übersetzung erschienen sind. Die koreanischen Vorlagen entstanden vor einem Vierteljahrhundert und sind zum Teil deutlich auf den Koreakrieg bezogen, zum Teil aber auch, aus Gründen der Zensur weniger explizit, auf die Diktaturen, die im Süden des geteilten Landes auf den Krieg folgten. Gerade diese Texte lassen sich aus den Zusammenhängen ihrer Entstehung lösen und universell auf Verhältnisse anwenden, die durch Gewalt und Unterdrückung bestimmt sind.

Zuweilen geht es um die Scham der Einzelnen, die es versäumen, sich aufzulehnen. In „Das Netz“ stellt sich ein Angestellter zuerst vor, wie er den Geschäftsführer ermordet, der ihm seine Entlassung mitteilt. Dann will er wenigstens noch den monströsen Hofhund seiner Vermieter, den er Tag für Tag mit Kuchen besänftigen muss, vergiften. Das erste versucht er nicht einmal, das zweite scheitert im Ansatz, und zurück bleibt ein gedemütigter Verlierer.

Zuweilen geht es Lim auch um das Verhalten von Gruppen. In der umfangreichsten und gewichtigsten Erzählung, „Das Phantom-Sportfest“, marschieren im Krieg fremde Truppen in ein Dorf ein. Auf dem Sportplatz wird selektiert: Wer von den Bewohnern ist zu töten, wer gehört zu den neuen Siegern? Kühl schildert Lim, wie sich Verrat, Eigennutz und die hämische Freude, zu den Davongekommenen zu gehören, durchsetzen. Schwer zu bestimmen ist dabei, ob die Gewalt eine heile Dorfgemeinschaft zerstört oder nur die Brüche hervortreten lässt, die es zuvor schon gab. Anders als etwa Jo Jong-Rae, dessen Romane „Land der Verbannung“ und „Das Feuerspiel“ ebenfalls von der Mikrostruktur der Gewalt im Bürgerkrieg handeln, liefert Lim keine Vorgeschichte und keine Motivation. Dennoch greift Heike Lee in ihrem Nachwort zu kurz, wenn sie konstatiert: „In der Zeit des Wahnsinns scheinen alle den Verstand verloren zu haben.“ Die Machthaber setzen eine Realität, in der es rational wird, das eigene Überleben mit dem Tod der Nachbarn zu erkaufen. Dabei bringt die Erzählung eine überraschende Wendung – man sollte deswegen das Nachwort wirklich als Nachwort lesen. In Frage steht zuletzt die Rationalität der Macht und damit auch, wem unter den scheinbar eigenen Leuten man vertrauen kann.

Auffällig ist hier, wie auch sonst im Band, die Bedeutung der Familie. Auf dem Sportplatz werden Opfer und Sieger familienweise sortiert, und es kann das Leben gefährden, wenn ein Verwandter ein paar Dörfer weiter dem falschen Regime als Polizist dient. Besonders eng ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. In der Erzählung, die dem Buch seinen Titel gibt, findet der Protagonist während eines Manövers zusammen mit Kameraden die Überreste eines Mannes, der im Koreakrieg ermordet wurde. Er verbindet dies mit dem Schicksal seines Vaters, der im Krieg verschollen blieb, und lernt dabei, den Vater nicht mehr nur als denjenigen zu sehen, der die Familie verlassen hat, sondern auch als Opfer. In „Windrauschen“, der metaphorisch vielleicht dichtesten der zumeist ohnehin sprachlich konzentriert gearbeiteten Erzählungen, rettet eine Mutter das Leben ihres Sohnes, der Partisanen mit Essen versorgt: Sie denunziert das Unternehmen und opfert die Kameraden. Das hilft wenig, denn nun kann der Sohn die Schuld nicht vergessen und siecht dahin. „In jener Nacht, als die Petroleumlampe brannte“, kehrt eine andere Mutter in ihr im Krieg evakuiertes Bergdorf zurück. Sie stellt das Licht auf, damit ihr Sohn, der sich den Partisanen angeschlossen hat, weiß, wo er sich Essen und Kleidung holen kann.

Es handelt sich um den wohl schwächsten Text des Bandes. Indem Lim Mutterliebe gegen Kriegslogik stellt, bewegt er sich gefährlich nahe am Klischee. Schwer zu glauben ist, dass es in Kriegszeiten eine solche Naivität wie die der Mutter gibt, die so zwar ihren Sohn ins Dorf lockt, damit aber unfreiwillig in eine Falle, die sie leicht hätte vorhersehen können. Wo Lim statt der Dynamik der Macht ein gutes Anderes zeigen will, kippt seine Prosa ins Ideologische. Zu allem Überfluss lässt er eine Hochschwangere Zuflucht in der Hütte der Mutter suchen. Während der Sohn verblutet, erblickt ein Neugeborenes das Licht der Welt; als könne ein neues Leben den Verlust eines anderen Daseins aufwiegen und werde so alles gut. Doch eine solche Sentimentalität bleibt zum Glück die Ausnahme.

Eine kleine Gruppe von Erzählungen hat wenig mit den Hauptthemen zu tun. Im winterlichen Wartesaal des „Bahnhof von Sapyeong“, wo neun Reisende auf einen verspäteten Zug hoffen, spielt unmittelbar Politisches nur eine randständige Rolle. Vielmehr entsteht ein Mikrokosmos der koreanischen Gesellschaft. Nur „Finsternis“ spielt unter wohlhabenden Leuten; die Erzählung schildert die Entfremdung in einer Ehe. „Das verlorene Zuhause“ und „Meer der Wölfe“ zeigen aus einer Kinderperspektive den Zerfall von Familien.

Es ist dem Pendragon Verlag zu danken, dass er nach der wichtigen Erzählung „Unfruchtbare Zeiten“ in der Anthologie „Versammelte Lichter“ aus dem Jahr 2002 und „Das rote Zimmer“ von 2003 nun weitere Werke dieses bedeutenden Autors vorstellt. Der klug komponierte Band besticht durch seine reiche, häufig ungewöhnliche Metaphorik. Stilistische Brüche, die bei der Lektüre zuweilen ärgern, wären allerdings besser durch ein sorgsames Lektorat vermieden worden; da fällt etwa ein Urteil, modern-hässlich genug, „relativ korrekt“ aus, aber der, dem es gelingt, muss im gleichen Absatz altertümelnd „vierundzwanzig Lenze“ zählen. Doch sollten derartige Schwächen Lim Chul Woo nicht jene Aufmerksamkeit kosten, die er verdient.

Titelbild

Chul Woo Lim: Die Erde des Vaters. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Heike Lee, Lee Tae Hoon, Holmer Brochlos.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2007.
270 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783865320704

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