Die Gewalt des Alltäglichen

Über Uwe Timms frühen Roman "Kerbels Flucht"

Von Tim HeptnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tim Heptner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junger Mann ist auf der Flucht - vor sich selber. Er versucht seinem ereignisarmen Leben zu entkommen: der ungeliebten Arbeit als Taxifahrer, den Trümmern seines Germanistikstudiums, den wohlmeinenden Ratschlägen seiner Bekannten. Zugleich ist derselbe Mann auf der Suche - nach sich selber. Dazu schreibt er auf, was ihn bedrückt und liest in seinen Aufzeichnungen.

Christian Kerbel heißt der tragische Held in Uwe Timms Roman "Kerbels Flucht". Er beginnt mit einem Abschied. Der Erzähler begleitet seinen Protagonisten noch bis er von seiner Freundin Karin verlassen wird, danach wechselt die Perspektive und der Roman folgt seinem verlassenen Helden in den kommenden Wochen und Monaten in einer Folge von Tagebucheinträgen. Das dabei entstehende Porträt wird durch skizzenhafte Notizen ergänzt, die dem Ich-Erzähler einst als Grundlage zu einem autobiographischen Roman dienen sollten. So erfährt der Leser in Momentaufnahmen wichtige Details aus Kerbels Vergangenheit. Gemeinsam mit den fortlaufenden Aufzeichnungen entsteht ein überzeugendes Psychogramm. Die intimen Bekenntnisse des Christian Kerbel machen deutlich, wie ihm das eigene Leben zusehends abhanden kommt.

Kerbel rechnet mit sich selbst ab: "Das Schreiben macht alles erträglicher, auch das Selbstmitleid". Schreibend glaubt er, mit der kaputten Liebesbeziehung fertig werden zu können. Aber schon bald hält er es in München nicht mehr aus. So flieht er ein erstes Mal, fährt nach Berlin, um sich mit Karin zu einigen. Doch hier lernt er Karins neuen Freund kennen: "Plötzlich schien es mir nur konsequent, dass sie sich für ihn entscheiden würde, nicht weil er Geld verdient oder Karriere machen wird, sondern weil der Sinn auf seiner Seite ist". Der tief getroffene Romanheld verstrickt sich immer tiefer in - Selbstzweifel und die verlorene Liebe wird zum Anlass grundsätzlicher Beziehungsangst und Lebensmüdigkeit.

Vor dem Absturz in peinliche Selbstentblößung bleibt Kerbel aber bewahrt, da Uwe Timm ihm eine große Wachheit für die tragischen wie komischen Momente des Alltags verleiht. Der "Filmjünger" und Fernsehzuschauer Kerbel, der statt an seiner Examensarbeit lieber an einem Drehbuch arbeitet, löst sein Bild von der Gesellschaft in sehr anschaulichen Nahaufnahmen der Figuren auf: Penner, Punks und Prostituierte auf nächtlichen Strassen; die Erfolgreichen - von ihren Neurosen in den Alkoholismus getrieben und die Aussteiger in ihrer Landkommune, die ihren großen Traum vom selbstbestimmten Leben an Kleinigkeiten zerstreiten. Kerbel entwickelt eine illusionslose Perspektive auf konkurrierende Lebensentwürfe, die er allesamt ablehnt. Sie findet ihren Ausdruck im nüchtern registrierenden Stil, der die Unabgeschlossenheit individueller Selbstentwürfe betont.

Mit "Kerbels Flucht" hat Uwe Timm ein Buch geschrieben, dessen Thema - persönliche Ohnmacht und schmerzlicher Verlust gesellschaftlicher Utopie - auch 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung aktuell ist. Die Desillusion wird durch die Figur des Germanistikstudenten schließlich auf spielerische und intelligente Weise bestärkt, indem Uwe Timm klassische literarische Zitate in seinen Text einmontiert, allen voran Georg Büchners Lenz: "Er stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen und sich diese Qual zu wiederholen."

Titelbild

Uwe Timm: Kerbels Flucht.
dtv Verlag, München 2000.
224 Seiten, 8,40 EUR.
ISBN-10: 3423127651

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch