Klassensprecherliteratur

Chorknabe Fridolin Schley umwirbt in "Wildes schönes Tier" Schwiegermütter und Deutschlehrer

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eine traurige Wahrheit über meine Generation ist, dass wir alle Genies waren in der Grundschule", bloggt eine junge Frau im Trailer der US-Webserie "quarterlife". "Doch offenbar haben die Leute, die jetzt mit uns zu tun haben, niemals unsere Zeugnisse gesehen. Denn sie scheinen das nicht zu bemerken." Und es stimmt: Nur selten sind es die Klassenstreber und Fleißbienchen, die kurz nach dem Studium im Literaturbetrieb anklopfen. Von Trainingsjackenträger Jörg Albrecht über bleiche, kühle Fräuleins wie Rabea Edel oder Nora Bossong bis zu Fußballfreund Saša Stanišic: Die jüngste deutschsprachige Autorengeneration hat - wie schön! - viel Platz für Leute, denen man zutraut, dass sie tolle Mixtapes machen, viele Freunde haben, schön wohnen, gut tanzen oder wenigstens gerne. Leute also, die nicht nur gut schreiben wollen. Sondern auch gut leben.

Fridolin Schley, geboren 1976, gehört nicht dazu. Seine Lesung letztes Jahr in Klagenfurt folgte direkt nach Jörg Albrechts schneller, grellen Metameta-Medien-Brinkmann-Pop-Performance über Trainingsjacken-Boys im Tanzpalast. Albrechts Vorstellungsfilmchen war mit einer Klangcollage aus Anrufbeantworter-Ansagen unterlegt, zur Lesung selbst wurden Computeranimationen an die Wand gebeamt, und im Anschluss folgte die große, müde Ratlosigkeit der Jury. Anders aber Schley: Sein Videoporträt spielte in einer aufgeräumten Verlagsbuchhandlung, der Autor strich brav über Bücherrücken, trug beim Auftritt Hemd und Sakko, zugeknöpft und schwiegermutterkompatibel. "Das ist sehr stimmig gemacht", sagte Jurorin Ilma Rakusa später über den Text (ein Ehepaar am Strand: gewichtige Themen, bleierne Sprache), "aber jeder Tschechow ist moderner als dieser Text."

Jungs, die sich ständig im Deutschunterricht meldeten: Wo haben die gesessen? Was haben die gelesen? Worüber gesprochen? Geschrieben? Und was wäre, wenn sie alle heute, mit Mitte, Ende zwanzig, Bücher veröffentlichten? Was stünde drin? Fridolin Schleys Texte sind eine mögliche Antwort: Schley schreibt Streber-Literatur. Literatur für Mütter, für Lehrerinnen, Kreisstadt-Literatur, Wohngebiets-Literatur, Mittelstands-Literatur. Texte, beherrscht von einem unmotiviert "hohen Ton". Steif und beflissen versucht der junge Autor, "möglichst literarisch" mit der Welt zu verfahren. Dafür emuliert er einen bekannten Ton: den Ton jahrzehntealter Schullektüren.

In Schleys Debüt "Verloren, mein Vater" (2000) geht es um einen schwermütigen Medizinstudenten, der durch den Wald flaniert, in alten Kirchen über Vergänglichkeit sinniert. Es geht um den Zauber zufälliger Bekanntschaften während des Zugfahrens, es geht um die NS-Vergangenheit der Großeltern, und um Bewunderung für die Figur des Vaters: ein Fotograf von Weltrang, schier platzend vor bürgerlicher Souveränität, Gesetztheit, Männlichkeit.

"[Camus'] Die Gerechten lasen wir im Wohnzimmer mit verteilten Rollen. Meine Mutter spielte auch mit, auch wenn sie mehrmals ihren Einsatz verpasste, weil sie im Ofen nach dem Rollbraten sehen musste", schrieb Schley drei Jahre später im Erzählungsband "Schwimmbadsommer" (2003): mütterliche Mütter, vergötterte Väter, es ging ums Kindsein in den frühen 1990er-Jahren, um die Rituale und Statussymbole des Mittelstands. Die kleinen Unterschiede, an denen sich die eigene (kulturelle, soziale, sexuelle) Überlegenheit des Bildungsbürgertums beweist: "Meine Mutter verbrachte die meiste Zeit in der Universität, oft saß sie bis abends in der Bibliothek, ab und zu ging sie ins Theater, fast nie ins Kino. Sie würde Lehrerin werden, das stand fest, Romanistik und Anglistik, und natürlich war es die Literatur, die sie faszinierte, der Wunsch, die Originale zu lesen, Austen auf der einen, Balzac auf der anderen Seite. (Balzac, der, wie meine Mutter mir eines Tages erzählen würde, täglich fünfzig Tassen Kaffee trank. ,Das Lustige ist', sagte meine Mutter, ,dass man es merkt. Seine Figuren sind immer etwas aufgeregt.')"

Der Tennisplatz, die Buchhandlung, der Strandurlaub in Frankreich - und hin und wieder ein KZ, für Rückblenden: Man kann das furchtbar finden. Ein glatter, satter, weißer Junge, der seinem Vater Miniaturen widmet über die Zeit im Einfamilienhaus in Gauting (Bayern). Das Dumme ist nur: Man kennt so etwas nicht. Man liest so etwas nie! Es gibt ihn nirgendwo bei jungen Schreibern sonst: den hohen Ton, den bürgerlichen Blick, das Schreiben über gutsortierte Väter, stolze Patriarchen. Und Mütter, die "nach dem Rollbraten sehen", ganz ohne kritisch-feministische Agenda zwischen den Zeilen. Und deshalb ist es ganz unmöglich, Schleys Bücher langweilig zu finden. Hier ist ein Ton, der sehr vertraut erscheint, doch nirgendwo mehr stattfindet. Staubig? Steif? Wenn alle so schrieben, ja. Doch isoliert, als einzig braves Bürgerkind im Trainingsjacken-Mixtape-Mahlstrom, wird Schleys Establishment-Beschreibung zum Gegenpol. Faszinierend anständige Literatur.

Hier schreibt jemand, der sehr gut schreiben will: korrekt, bemüht. Und trotzdem angenehm divers: Die sechs Texte aus "Wildes schönes Tier", Schleys zweitem Erzählungsband, schlagen große Bögen - Rollenprosa und Apokalyptisches, Familientexte und ein klassisches Eifersuchts-Szenario, es geht nach Köln und Portugal und London, Spanien, Berlin. Furztrockenes Vokabular, gut abgehangene Motivik, aber - und das merkt man nur langsam - trotzdem verspielt. Bunt. Gewagt. Etwa, wenn Schley im Eingangstext, "Unannehmlichkeiten durch Liebe", einen vergessenen Autor Briefe ins Lektorat eines Verlags schicken lässt, und erst langsam wird klar, um wen es geht, um welchen (real: toten) Helden. Die Unbekümmertheit, mit der Schley Realität in seinen Sonne-und-Meer-Text stückelt, das Spiel zu Ende denkt, ganz ohne stolzgeschwelltes "Was sind wir heute aber postmodern!"-Gegockel, macht großen Spaß.

"Jeder Tschechow ist moderner"? Das stimmt. Ist aber nicht schlimm. Im besten Text der Sammlung, der Familiengeschichte "Die achte Welt", bereitet sich die Hauptfigur auf die Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule vor, indem er alte Super-8-Familienfilme sichtet, um sie zu "echter" Kunst zu verschneiden. Dieses Schnippeln und Bauen, Klittern und Polieren, entwickelt sich in "Wildes schönes Tier" zum Fluchtpunkt von Schleys Poetik: Immer geht es - neben der eigentlichen Geschichte - auch darum, wer sich diese Geschichte aneignet, und wozu er sie ummodelt, benutzt.

Zentrales Motiv in "Stendhal, Stockholm", einer weiteren alte-Leute-und-KZ-Geschichte (staubig, müde, aber: überraschend grotesk) ist ein Gemälde von Degas, das eine Badegesellschaft am Strand zeigt und "das zwanghafte Bedürfnis" von Schleys Figur, alles über dieses Bild zu erfahren. Es zeigt eine Gouvernante, die einem jungen, reglosen Mädchen das Haar kämmt, davor im Sand: ein Regenschirm, ein Kleid. Und weiter hinten an der Brandung: ein Ehepaar mit Hund, Dampfer, Boote. In Schleys Geschichte ist es nur ein kleines Stück dieses Tableaus, ein später übermaltes Kind, in dem sich das Jahrhundertleben des Betrachters bricht und spiegelt, "schließlich wisse auch er bis heute nicht, was ihn an diesem eigentlich bedeutungslosen Entstehungsdetail so tieftraurig gemacht habe."

Auf dem Cover von "Wildes schönes Tier" ist es dagegen das Kleid des reglosen Mädchens, das plötzlich alles an sich reißt: als Computermanipulation wird der braune Stoff des Originalgemäldes zu einer planen, riesenhaften Fläche, einem sterbenden Ballon, monströsen Tümpel, noch größer als das komplette ursprüngliche Bild. Ein sehr passendes Buchcover: klassisch, aber verwandelt. Mutig. Und gruselig. Untief und schön. Frech auf den Schultern von Giganten stehend. Und dabei sprachlich kreuzbrav. Wenn alle schrieben wie Herr Schley, die junge deutsche Literatur hätte den Namen nicht verdient. Doch dass es (Immerhin? Überhaupt? Trotzdem?) einen gibt, der all das wirklich durchzieht, mitträgt, weiterspinnt, ist eigentlich nicht schlecht. Fridolin Schley schreibt Klassensprecherliteratur. Ungemein nervig. Aber ungemein anders. Und deshalb: Nach wie vor spannend!


Titelbild

Fridolin Schley: Wildes schönes Tier. Erzählungen.
Berlin Verlag, Berlin 2007.
138 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007476

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