Der mit den Räuberhänden

Finn-Ole Heinrich legt einen schwarzweißen Debütroman vor

Von Lino WiragRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lino Wirag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Du gehst mir auf dem Sack, weißt du das?" - "Ja, du mir auch." Janik und Samuel haben schlechte Laune. Die beiden Freunde sind nach Istanbul geflogen, um nach Spuren von Samuels Vater zu suchen, der vielleicht Türke ist - Spuren deshalb, weil sie nichts von ihm wissen: außer seinem Vornamen. Die beiden jungen Männer nähern sich der unbekannten Stadt wie einem schillernden Tier: vorsichtig, aber mit Neugierde und Abenteuerlust. Doch Samuels Mutter, die Alkoholikern, wirft ihren Schatten - wie eine Riesin, von Deutschland bis an den Bosporus.

Dass der Autor des Romans "Räuberhände", der 25-jährige Finn-Ole Heinrich, vom Film kommt, merkt man schon an den ersten Sätzen. Seine Sprache ist optisch, haptisch, überhaupt sinnlich; an den besten Stellen leuchtet sie hinter gelungenen Metaphern. Heinrich kann Figuren formen, er charakterisiert sie über Details und Eigenarten, gießt sie aus. Samuel, einer der jugendlichen Protagonisten, hat die Angewohnheit, seine Fingerkuppen zu zerbeißen: Der Ich-Erzähler, der Abiturient Janik, attestiert ihm deshalb: Räuberhände. Zum Verweis auf das Medium Film passt auch, dass sich Prinzipien des amerikanischen Creative Writing - das eng mit dem Drehbuchschreiben verknüpft ist - im Buch wiederfinden; so zum Beispiel der direkte Einstieg in die Erzählung ("Mein Eltern lieben Samuel"), der Einsatz spannungssteigernder Mittel und schließlich die krisenhafte Zuspitzung der Geschichte (Samuel erkrankt in der Türkei, während seine Mutter sich in Deutschland in den Exitus trinkt). Die beiden jungen Männer bleiben gewandelt zurück, wenn auch auf unterschiedliche Weise: Samuel entscheidet sich für die Zukunft, Janik für die Vergangenheit. Einer Verfilmung des Buchs stünde nichts im Weg.

Wären da nicht die Achronien der Erzählung. Den Kapitelanfängen wird beispielsweise ein schmaler Absatz vorangestellt, der typografisch vom Haupttext abgetrennt ist. In diesen schlaglichtartigen Passagen finden kürzeste Vorwegnahmen statt, die das Geschehen nach der Haupthandlung anreißen: Sie lassen nichts Gutes ahnen. So entsteht für den Leser eine Form von Suspense. Solche Zeitbrüche werden wiederholt eingesetzt; Cuts und Szenenwechsel bestimmen das Erzähltempo. Dass der Leser nicht die Orientierung verliert, liegt daran, dass die Haupthandlung deutlich sichtbar bleibt, während die restlichen Szenen wie die Teile eines Mobiles daran aufgehängt sind. Ein "Montagefilm" (Sylvie Kürsten) ist es deswegen aber noch nicht.

Eher schon ein Schwarzweiß-Movie: Samuels Räuberhände stehen im Kontrast zur "Quallenhand" von Janiks Vater, die vor 25 Jahren eine Autotür zerschlug - ohnehin wird in diesem Buch vieles miteinander kontrastiert. Janiks Lehrer-Eltern mit ihrem bürgerlich-behütenden Gemüselasagne-Wesen unterscheiden sich scharf von der Welt, in der Samuels Mutter lebt. Sie hängt vor dem Supermarkt herum und betrinkt sich ("Sie ist eine Pennerin"). Ordnung versus Chaos, Bürgertum versus Prekariat, Zucht versus Libertinage, Jugend versus Erwachsensein, heterosexuelle Triebwünsche versus homoerotische Männerkumpeleien: "Räuberhände" ruht auf solchen Antinomien wie auf Spinnenbeinen.

In solchen Gegensätzen ruht auch die Gefahr einer unangemessenen, weil zu einseitigen oder oberflächlichen Darstellung. Solch unappetitlicher Sozialromantik entgeht der Roman nicht immer; dazu trägt auch die Sprache bei, in der Janik und Samuel sich unterhalten. Zu oft werfen sich die beiden "Halt's Maul" oder "Fick dich" an den Kopf, so dass manche Passagen lesen, als sei der Roman ein Jugendbuch für die gymnasiale Unterstufe, das sich betont zwanglos gibt. Ausdrücke wie "gechillt" und "das Allerschärfste" wirken ausgestellt in der sonst ruhigen, mit wenigen, kräftigen Bildern gefärbten Sprache. Wenn Jan Drees über den Erzählton des Buchs schreibt, er sei "ohne Zuckerguss und Schnörkel, niemals bewusst großes Kino, sondern stets unaufgeregte, sprachlich sichere Unterhaltung, die einem an keiner Stelle auf die Nerven fällt"; dann kann das auch falsch herum gelesen werden: Hier wird stilistisch nicht viel gewagt. Dass die Erzählung an manchen Stellen straffer geführt sein könnte, lässt sich ebenfalls an den Dialogen ablesen. An einer Stelle heißt es: "Gut, Alter, haste echt gut gemacht. Perfekt, gefällt mir." - "Ja, ist 'n Zimmer, ne." - "Ja, aber gut. Nicht übertrieben, gute Lage, günstig." Ob man dieses Gestöckel der Unerfahrenheit eines jungen Autors zuschreiben darf, der schon vor zwei Jahren seinen ersten Erzählband veröffentlichte und dafür verdientermaßen Lob und Preise erhielt?

Wo Samuel und Janik sicher auf ihren narrativen Beinen stehen, wirkt die einzige weibliche Hauptfigur (neben Samuels Mutter) fast vernachlässigt: Lina, Janiks Kurzzeitfreundin. Sie wird vom Erzähler auskonturiert ("Ihre Zähne sind zwar weiß und groß, aber krumm und schief wie eine Kiste Bauklötze."), dann aber - nach einem blümchenhaften Ersten Mal im Schlafsack - schnell abgesägt. Auch der randständige Bubu, der Supermärkte leerklaut und die anderen Nachmittagstrinker terrorisiert, wird wieder fallengelassen. "Die Debatte über die dem Text eigene Sinnkohärenz ist ein so notorisch streitbares wie fruchtbares Unterfangen", weiß Michael Lentz. Man sollte sie führen, damit "Räuberhände" nicht den Lack eines Bildungsromans bekommt, samt "Auseinandersetzung einer zentralen Figur mit verschiedenen Weltbereichen" (Jürgen Jacobs), Hui-Stellen wie Parkplatzsex und nur knapp unter der Oberfläche lauernder Didaxe. Wenn zu guter Beobachtergabe, zu feiner Charakterisierung und routiniertem Handlungsaufbau noch ein Schuss Ironie, Spiel, Experiment treten: Dann wird "Räuberhände" als das stehen, was es sein soll: ein glaubhaftes, berührendes, trauriges Buch über das Erwachsenwerden.


Titelbild

Finn-Ole Heinrich: Räuberhände. Roman.
Mairisch Verlag, Hamburg 2007.
208 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783938539088

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch