Unvernünftige Geschichte

Wilhelm Raabes Geschichts-Erzählung "Sankt Thomas", mit einem Nachwort neu herausgegeben von Florian Krobb

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Alte zog die Spitzen des wohlgepichten Schnauzbartes durch die Hände, drehte den Knebelbart und verlor sich unter wiederholtem Schütteln des Hauptes in das tiefste Nachdenken über den nichtsnutzigen ungerechten Zustand der Welt", lässt der Erzähler den spanischen Garnisonskommandant Franzisko Meneses zu Beginn von Wilhelm Raabes 1866 erstmals in der Zeitschrift "Freya. Illustrierte Blätter für die gebildete Welt" erschienenen Geschichts-Erzählung "Sankt Thomas" sinnieren. Der Text erschien 1869 in der Erzählsammlung "Der Regenbogen".

Die überwiegend aus der dreibändigen Geschichte von Karl Curths "Der Niederländische Revolutionskrieg im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert" gespeiste historische Erzählung liegt jetzt in einer von Florian Krobb herausgegebenen Neuausgabe in der Bibliothek des 19. Jahrhunderts im Hannoveraner Werhahn-Verlag vor. Neben einem ausführlichen und instruktiven Nachwort und wenigen Anmerkungen bietet Krobb die gerade mal 60 Seiten umfassende Erzählung nun samt Quellenauszügen aus Curths zwischen 1808 und 1810 erschienenem Geschichtswerk, das im Übrigen Friedrich Schillers "Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande" fortführen will. Auszüge aus Olfer Dappers 1671 publizierter "Eigentliche[n] Beschreibung der Insulen in Afrika..." finden sich in der Neuausgabe ebenso wie ein knappes Literaturverzeichnis und ein Nachweis über die beiden das Bändchen illustrierenden Abbildungen. Nicht zuletzt dank des fundierten und umfangreichen Nachworts erscheint die "Sankt Thomas"-Erzählung, die die Germanistik bislang allzu sehr vernachlässigt hat, als "Raabes Reaktion auf die Schiller-Euphorie von 1859".

Die Handlung von "Sankt Thomas" ist rasch erzählt. Unter dem Befehl von Admiral van der Does greift im Jahr 1599 eine niederländische Flotte die strategisch wichtige, von den Spaniern verwaltete Insel São Thomé vor der Westküste Afrikas an. Unter der Führung von Don Franzisko Menenes verteidigen sich die Spanier, unterliegen aber den Niederländern, da diese auch Einheimische auf ihre Seite bringen, um gegen die alten Kolonialherren zu kämpfen. Doch wie Menenes und seine Familie sterben auch zahlreiche Sieger, darunter Admiral van der Does, die von einer fiebrigen Seuche niedergestreckt werden, "welche die gesamte dezimierte und geschwächte niederländische Streitmacht zu einem überstürzten und unrühmlichen Rückzug zwingt. Kurze Zeit später hisst ein spanischer Handelsschiffer erneut die spanische Flagge über der Festung Pavaosa - die ganze katastrophale maritime Expedition hatte den Holländern somit keinerlei bleibenden Gewinn gebracht", wie Krobb zusammenfasst.

Raabe folgt in seiner Erzählung dem historischen Handlungsverlauf. Zu den historischen Figuren gesellt sich jedoch noch fiktives Personal. In erster Linie Donna Camilla Drago und ihre Zofe Señora Rosamunda Bracamonte. Sie lebten vier Jahre vor den Kämpfen um Sankt Thomas als Geiseln in Holland, just im Hause van der Does, dürfen jedoch, als sie aus politischen Gründen eines Tages als Geiseln wertlos sind, die Niederlande verlassen. Donna Camilla begibt sich samt Zofe zu ihrem Onkel auf die Insel Sankt Thomas. Eine aufkeimende Sympathie zwischen Georg, dem Stammhalter im Hause van der Does, und Camilla wird so jäh unterbrochen. Und auch vor Sankt Thomas, als beide von einander erfahren, gibt es kein Happy End.

Entwicklungsgeschichtlich zwischen "Abu Telfan", dem Erzählexperiment "Die drei Federn" und der "beißenden Spießbürgersatire" "Die Gänse von Bützow" eingebettet, erscheint Raabes "Sankt Thomas" als dezidierte Absage an die Vernunft, an eine wie auch immer geartete Berechenbarkeit von Geschichte. Von einem Geschichtsauftrag à la Schiller ist in dieser Erzählung nichts mehr zu spüren.


Titelbild

Wilhelm Raabe: Sankt Thomas. Eine Erzählung.
Mit einem Nachwort und Anmerkungen herausgegeben von Florian Krobb.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2007.
152 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783865253033

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