"Ich leide hier wieder unter dem Mangel an Frauen"

"Ein Dandy auf Reisen" - Über Band zwei der Tagebücher des Literaten, Dandys und Bohemiens Oscar A. H. Schmitz

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Brevier für Weltleute" - so lautet der Titel einer längst vergessenen Essaysammlung, die 1911, also nur drei Jahre vor Kriegsausbruch, erschien. Neben Texten über die "Magie des Anzugs", den "Wert der Konventionen" oder den "Umgang mit Frauen" findet sich einer, der die "Technik des Reisens" lehren will. Diese bestehe vor allem aus akribischer Vorbereitung. Denn wer den Baedeker beizeiten studiere, könne sich den lästigen Kontakt mit Einheimischen sparen. "Wir wissen die Sehenswürdigkeiten, die wir auf alle Fälle sehen wollen, und können daher, dank Baedeker, viel Zeit zum 'individuellen Bummeln' gewinnen [...]. Wir sind nicht auf das gönnerhafte Gutachten des Oberkellners angewiesen, um zu erfahren, ob wir an dem oder jenem Ort Frack oder Straßenanzug tragen sollen. Kurzum, durch die richtige Benutzung des Baedekers... fallen wir sowenig als irgend möglich als Fremde auf."

So sah es aus, das Ideal des Dandys vom Schlage Oscar A. H. Schmitz: Souveränität in jeder Lebenslage und gesellschaftlichen Situation. Jenseits solcher Selbststilisierungen war Schmitz jedoch ein typischer Vertreter dieses wilhelminischen 'Zeitalters der Nervosität'. Seine Reisen durch Nord- und Südeuropa und den Nahen Osten, sein ständiges Wechseln des Wohnortes waren wenig mehr als Versuche, die stete Unruhe zu besänftigen, die Gier nach neuen Reizen und Ablenkungen. Schmitz war gefangen in einem Teufelskreis aus übergroßen Erwartungen, Enttäuschungen und Überdrussreaktionen. Das macht ihn zu einem Prototypen des modernen Menschen, der sich zwischen all den sich bietenden Optionen selbst verliert.

Die heute allenfalls antiquarisch erhältlichen Werke des 1873 in Bad Homburg geborenen Literaten wurden zu seinen Lebzeiten durchaus gelesen und gelobt, von Hofmannsthal etwa, Hermann Hesse oder Thomas Mann. Schmitz jedoch reüssierte als Autor mit wenig mehr als bloßem Zeitgeistschrifttum. Er schrieb über Mode und Manieren, Lebens- und Liebeskunst, Psychoanalyse, Okkultismus und Astrologie.

Die Bedeutung des jetzt gefundenen Journals besteht vor allem in seinem Wert als psychologisches und kulturgeschichtliches Dokument. Denn es zeigt die ungeschminkten Innenansichten eines Dandys und Bohemiens der Literarischen Moderne. Im ersten Band erlebt man Schmitz im Paris des Fin de Siècle, im Umkreis Stefan Georges und in zwei Strindberg'schen Ehehöllen (siehe Rezension in literaturkritik.de Nr.4/2007). Der zweite Band umfasst die Jahre von 1907 bis 1912. Mit Schwabings größenwahnsinnigen Kunsthistorikern und sich emanzipierenden "Reformweibern" bricht Schmitz nun endgültig, mit ihnen rechnet er in seinem Schlüsselroman "Wenn wir Frauen erwachen" ab. Ruhelos zieht es Schmitz erst nach Berlin, dann nach Wien. Im Café Central hört er Rilke lesen, den er "unerträglich hysterisch" findet, plaudert mit Hermann Bahr und Peter Altenberg, er lässt sich in der Berggasse 19 von Freud die Psychoanalyse erklären und besucht mit Stefan Zweig Wiener Bordelle: "Dann eine Tour durch verschiedene interessante Häuser. Bäckergasse 22. Großer Saal. Sehr behaglich. Erst verschwindet [Zweig] mit Einer, ich mache Musik im Salon, errege mich dabei und gehe mit einer kleinen, üppigen Person namens Fritzi, die mir sagt, ich wäre so 'arrogant' und das gefiele ihr so gut an einem Mann. Riesenhimmelbett. Sie tut richtig verliebt. Dann in den Saal zurück [...] Auch Zweigs Dame sitzt ihm, scheinbar in ihn verliebt, auf dem Schoß. Und das Amüsanteste: Diese Mädchen scheinen im Augenblick wirklich für ein paar Minuten so zu empfinden. Das reinste Familienleben."

Wie schon im ersten Band sind auch im zweiten Bordellbesuche und Amouren der rote Faden von Schmitz' intimen Aufzeichnungen. Die Rede von der "Technik des Reisens" bekommt plötzlich neuen Sinn. Denn wo immer sich Schmitz befindet, ob in Dublin oder Algier, Sarajevo oder Lissabon, stets zieht es den Wohlinformierten zu den, wie er es nennt, "roten Lampen". Selbst die ägyptischen Pyramiden sagen ihm "nicht viel"; er besucht lieber in Assuan das "interessante Viertel". Nur einmal, in Jerusalem, kann auch der Baedeker nicht weiterhelfen; Schmitz liest zur Ablenkung in der Bibel und hofft auf das Beiruter Nachtleben. "Ich leide hier wieder unter dem Mangel an Frauen, die hier, wie es scheint, durchaus unzugänglich sind."

Das liest sich in seiner Freimütigkeit mitunter urkomisch, wirkt auf die Dauer aber doch etwas eintönig. Wohl auch deshalb hat der Verlag dem Band einige von Schmitz' Reiseessays beigegeben, in denen er wunderbar Stimmungen und Impressionen einfängt, von seinen eigentlichen Expeditionen aber freilich schweigt.

Auch sonst war keine Frau vor Schmitz sicher, häufig unterhielt er mehrere Liebschaften gleichzeitig. Die Zwanghaftigkeit, mit der dieser Don Juan mit unerschöpflichem Portemonnaie Frauen als "Besitz" und Beute sah, lässt erahnen, wie sehr zu dieser Zeit die Geschlechterverhältnisse bereits in Bewegung geraten waren. Die wilhelminische Männerwelt reagierte verstört auf die "erwachenden" Frauen - mann musste sich seiner Virilität versichern: "Solange ich eine Frau nicht besitze, habe ich keine Macht über sie. Besitze ich sie, bin ich der Herr. Instinctiv fühlen das die Frauen vorher."

Auch das "größte, stärkste Erlebnis" seines "Daseins", seine Liebe zu der Fotografin Anny Eberth, die Schmitz im August 1911 auf einer Überfahrt nach Konstantinopel kennen lernt, kann daran wenig ändern. Es dauert nicht lange, und die zunächst Vergötterte zeigt ihre "wahre" Natur. "Es ist klar, Anni hat den liebenswürdigen tändelnden, jeden Ernst mißverstehenden und fürchtenden Charakter einer besseren Kokotte, und ohne ihre glückliche äußere Lage wäre sie es auch wohl geworden. Neulich erzählte ich ihr von einem Börsengewinn, den ich zufällig gemacht hatte. 'Ach, davon schenke mir was', sagte sie sofort. Ich lächelte. 'Ja, ganz im Ernst, ich habe momentan überhaupt so wenig Geld.' Sie lachte natürlich dazu wie ein kleines Mädchen. Ich ging auch lachend darauf ein und sagte: 'Die besseren Kokotten zahlt man immer erst nachher.' Ich werde mich natürlich hüten, ihr je Geld zu geben, aber ich bin überzeugt, daß das Verhältnis, wie es jetzt ist, ganz wesentlich für sie an Reiz gewinnen würde, wenn ich ihr bei jedem Besuch ein oder zwei Hundertmarkscheine geben würde."

Auch die Schattenseiten der erotischen Libertinage verrät Schmitz' Journal. Einige seiner weiblichen Bekanntschaften aus der Bohème begehen Selbstmord; das "sich Ausleben" gelänge den "armen Frauen nun einmal nicht", kommentiert Schmitz zynisch. Das Tagebuch, das Schmitz als Instrument der Selbstvergewisserung dienen sollte, ist so entlarvend wie das Bildnis Dorian Grays: Anstelle des souveränen Dandys sieht man einen Süchtigen, der seinen Trieben und einer mysteriösen Angst vor Dämonen ausgeliefert ist. Im dritten Band beginnt Schmitz eine Psychoanalyse bei dem Freud-Schüler Karl Abraham. Auf ihren Ausgang darf man gespannt sein.


Titelbild

Oscar A. H. Schmitz: Ein Dandy auf Reisen. Tagebücher Band 2: 1907-1912.
Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz.
Aufbau Verlag, Berlin 2007.
571 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783351030988

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