In einem fernen Land, in einer vergangenen Zeit

Charles Todd entführt uns in ein England nach dem Großen Krieg

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, dieses England der guten, alten Zeit und dann auch noch auf dem Land: Heizungen gibt es noch nicht, nur hin und wieder Autos, die noch angekurbelt werden müssen, gelegentlich wie heutzutage verunfallen, aber nie irgendeine Panne haben. Da wird Tee getrunken, jederzeit, immer, wenn jemand zu Besuch kommt und dann auch noch stets am Nachmittag gegen fünf Uhr. Bier aber gibt es abends im Pub und nur für die Männer. Frauen gehören da nicht hin. Die Damen sind noch stolz und können sehr spitze Bemerkungen machen, die Männer sind grob, tragen schwere, schmierige Stiefel, Cordhosen und andere englische Trachten. Mit der Polizei spricht man nicht, man weist ihr die Tür und verbietet sich Unverschämtheiten wie sachdienliche Fragen. Der lokale Wirt wirft den Polizisten sogar gern wegen Geschäftsschädigung aus dem Haus. Es gibt Orte, bevorzugt kleine Wäldchen, zu denen man nicht geht, weil da die Sachsen einen Haufen Kelten gemeuchelt haben und es dort bis heute spukt. Naheliegend nebelt es viel und es regnet auch - wenn es nicht im Buch steht, wird's wenigstens immer mitassoziiert. Alles macht einen recht frostigen Eindruck, so frostig, dass man froh ist um die eigene Zentralheizung und das Leben in der Stadt.

Heimeliges Gruseln ist also angesagt, wenn Constable Hensley sich auf den Weg nach Frith's Wood macht, um dort nach etwas zu suchen - nach einer Leiche natürlich. Und es wundert kein bisschen, wenn er dabei einen Pfeil in den Rücken geschossen bekommt, der ihn von diesem Ansinnen abhält. Warum Inspektor Rutledge aus London ins ferne Dudlington geschickt wird, um das Attentat auf den Constable aufzuklären, ist auch nicht ganz klar. Der Polizeichef hat offensichtlich ein besonderes Interesse an Hensley, vielleicht wegen gemeinsamer Untaten in der Vergangenheit? Ein doppeltes Rätsel also: der Mordversuch an dem Constable und die besondere Fürsorge des Chefs für einen einfachen Polizisten, den er vor einiger Zeit von der Stadt aufs Land versetzt hat.

Rutledge selbst ist einer Bedrohung ausgesetzt, von der er nicht weiß, woher sie kommt. Hülsen von Maschinengewehrpatronen werden ihm zugespielt, es wird auf ihn geschossen, ein Lastwagen versucht ihn zu überrollen. Gibt es irgendeinen Zusammenhang?

Dabei bleibt es nicht, denn Rutledge stößt auf den Fall einer vermissten jungen Frau, nach der der Constable anscheinend gesucht hat. Er stößt auf ihre vermisste Mutter, er findet eine Leiche, aber weiß bis zum Schluss nicht, was das alles miteinander zu tun hat. Wenn es denn irgendwie zusammenhängt.

Die heile englische Welt ist offensichtlich nicht besonders heil. Das aber hat nicht nur mit den merkwürdigen Attentaten auf Polizisten zu tun. Wir schreiben das Jahr 1920, der Große Krieg ist vorbei, die Männer sind entweder gefallen oder sie tragen ihn noch mit sich herum. Rutledge gehört zu ihnen. In seinem Kopf führt er Dialoge mit einem Kameraden, mit dem er verschüttet war und dem er den Gnadenschuss gegeben hat. Sein Kamerad Hamish hat Ansichten zum Fall, zu den Dorfbewohnern, zu dem was Rutledge tut, aber er will noch nicht (wieder) sterben. Deshalb - so scheint es wenigstens - beschützt er Rutledge, lässt ihn das Richtige tun und versucht, ihn vom Falschen abzubringen.

Trotz solch transzendenter oder psychotischer Unterstützung stochert Rutledge ganz schön im Dunkeln herum. Wer ist der Wirt des Ortes, der als Zugezogener offensichtlich wenig Lust hat, sich mit den Einheimischen gemein zu machen? Was hat es mit dem Bruder des Viehzüchters Robert Baylor auf sich, der mit einer Gasvergiftung aus dem Krieg zurückgekehrt ist und den niemand zu Gesicht bekommt? Und was hat es mit all den anderen geheimnisvollen Dorfbewohnern auf sich?

Todd baut ein merkwürdig überladenes Rätselspiel auf, in dem sich sein Held nur mit Mühe zurechtfindet: Er wird von Frage zu Frage geschickt und niemand macht sich die Mühe, mit ihm wirklich zu reden. So bleibt es eigentlich bis zum Ende, und der Schluss, den sich Todd gönnt, ist weniger die plausible Auflösung eines Falls, also durch Indizien, Aussagen und Beweise gestützt sondern das Ergebnis eines wilden Herumrennens und -fragens, bei dem Zusammenhänge bestenfalls durch Zufall erkennbar werden. Die Lösung ist im Idealfall ein Plausibilitätsstück, dem man folgen kann, aber nicht muss.

Mit anderen Worten: Auch in diesem Stück Kriminalliteratur wird die große Tradition des englischen Stimmungsromans, in dem Leute, die nicht reden, miteinander plaudern, weitergeführt. Das Ganze wird zudem ein wenig historisiert, wobei damit eigentlich nur eine Kulisse eingeschoben wird, die wohl ihre Liebhaber hat. Damit hat es sich dann aber auch. Oder: Nicht ganz, denn englisch sind nur die Sprache und Kulisse des Romans. Charles Todd ist, wie man liest, das Pseudonym einer Amerikanerin namens Caroline und ihres amerikanischen Sohnes Charles, die an der Ostküste leben und gleichberechtigt Krimis schreiben. Nicht einmal die Autoren sind also englisch. Alles Lüge?


Titelbild

Charles Todd: Zeit der Raben. Ein Inspektor-Rutledge-Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Gnade.
Heyne Verlag, München 2007.
432 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783453432383

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