Von Chopin, Partisanen und unliebsamen Zwillingen

Das "Alphabet der polnischen Wunder" ist ein ebenso vielseitiger wie detaillierter Überblick über Kultur und Geschichte des in Deutschland noch immer recht unbekannten Nachbarn Polen

Von Felix KötherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Köther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Suhrkamp Verlag hat im Herbst vergangenen Jahres ein erfreuliches und solide gearbeitetes Buch veröffentlicht: "Das Alphabet der polnischen Wunder", ein alles andere als nüchternes Lexikon der polnischen Landeskunde. Es ist ein Sammelband mit kurzen Essays und Kolumnen, Artikeln und Anekdoten, deren knapp zwei Dutzend polnische und deutsche Autoren fast 130 Lemmata aus praktisch allen Bereichen erklären, kommentieren und bewerten. Man lernt und stöbert in polnischer Alltags- und Hochkultur, spezifisch polnischen Eigenheiten, liest von großen polnischen Namen, Künstlern wie Nationalhelden, Symbolen und Orten, Flora und Fauna, Galerien, Literaten und polnischer Kulturgeschichte nicht nur zu Zeiten des Sozialismus. Nicht zuletzt von Sprachgebräuchen und bekanntlich bewegter polnischer Geschichte. Das Buch bietet selbst für manchen Polen einiges bisher Unbekannte. Und für alle anderen ist es, über das gebotene Allgemein- und Fachwissen hinaus, ein ganz und gar nicht oberflächlicher Einblick in die polnische Mentalität und Weltanschauung. Letzteres ist in Deutschland ein ebenso blinder Fleck wie schon die große polnische Literaturtradition, der polnische Jazz oder der polnische Film mit international bekannten Regisseuren wie Roman Polanski, Andrzej Wajda oder Krzysztof Kieslowski.

Verbunden werden die im Buch versammelten Texte mit Illustrationen von Maciej Sienczyk, einem ehemaligen medizinischen Zeichner, der die Lemmata mit Skizzen und Zeichnungen nicht nur illustriert, sondern auch gerne auf leicht surreale Weise kombiniert. Mit dem Wort kombinieren (bzw. "kombinowac") übrigens - auch das lernt man in diesem Buch - geht im Polnischen ein komplett anderes semantisches Feld einher als im Deutschen, meint es dort doch auch das - gerne unter eher zwielichtigen Umständen - Organisieren und Besorgen: "Geschäfte machen, vorwiegend auf unlauterem Wege".

Diese verbalisierte Kartografie der polnischen Gesellschaft und Kultur ist dabei nicht bloß bunt und farbig, weil sie illustriert wurde, sondern schon weil Themenauswahl und Breite der beschriebenen Begriffe so derart abwechslungsreich sind. Neben dem polnischen Jazz etwa wird ebenso die junge polnische Hip-Hop-Kultur mit einbezogen; sowohl die polnische Mafia als auch Erscheinungen und Moden aus den sozial- und bildungsschwachen Schichten (und) der Wohnblockkultur werden kommentiert.

Wussten Sie zum Beispiel, dass die Entschlüsselung des deutschen Enigma-Codes maßgeblich durch die zugrundeliegende Arbeit polnischer Mathematiker möglich wurde? Dass man das Herz Chopins in der Warschauer Kirche zum Heiligen Kreuz bewundern kann, weil Chopins Schwester es über mehrere Grenzen nach Polen schmuggelte, nachdem Frankreich den Leichnam des Komponisten nicht herausgeben wollte? Schon etwas bekannter hingegen ist der Fiat Polski, der "maluch", ein kleiner, kantiger Fiat 126p, dessen Produktion Ende der Siebziger von Italien in das Land seines größten Erfolges verlegt wurde und letzteres fortan überschwemmte.

Auch bekannt und im Buch nachzuvollziehen ist die Geschichte Polens als Geschichte der Besetzung, Teilung und fremdbestimmten Grenzverschiebung. Das Land hatte im Verlauf der Geschichte in alle Himmelsrichtungen - nicht unbedingt erzpazifistische - Großmächte zum Nachbarn und war zeitweise - obwohl unter der Dynastie der Jagiellonen im 15. und 16. Jahrhundert selbst europäische Großmacht - und bis in das 20. Jahrhundert hinein als souveräner Staat sogar vollständig von der Landkarte verschwunden. Diesen Status erhielt es erst nach dem 1. Weltkrieg am Verhandlungstisch wieder, nur um zwanzig Jahre später erneut besetzt und Schauplatz grausamster Verbrechen zu werden, begangen von der Sowjetunion unter Stalin, vor allem aber den Deutschen, die hier die Zentren der nationalsozialistischen Judenvernichtung installierten. Die Massaker Stalins wurden teilweise erst nach 50 Jahren untersucht, nachdem dies wegen sozialistischer Zensur und Propaganda all die Jahre zuvor unmöglich gewesen war. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Grenzen Polens neu gezogen, das Land erlebte eine Westverschiebung, in deren Rahmen die ehemals deutschen Ostgebiete polnisch wurden. Polens ehemalige Ostgebiete, die so genannten "Kresy", mit Zentren wie Lemberg und der heutigen Hauptstadt Litauens, Vilnius, wurden den nun entstandenen Sowjetrepubliken zugesprochen. Aus diesen Gebieten wiederum wurden Polen vertrieben, die nun in den ehemals deutschen Gebieten angesiedelt wurden, weniger als ein Jahrzehnt, nachdem die Wehrmacht Polen erobert und Deutsche hunderttausende Polen aus deren Häusern gejagt hatten. Die polnischen Wälder, etwa im Bialowieza-Nationalpark, Heimat des letzten Tiefland-Urwaldes Europas, waren in diesen Zeiten die Rückzugsgebiete der Partisanen, nach dem Einmarsch der Deutschen auch jüdischer, nach 1945 selbst deutscher und antikommunistischer.

Lediglich ein kleiner Grenzstrich in den Vorkarpaten, an der heutigen Grenze zur Slowakei, blieb von all den Grenzverschiebungen unberührt und ist bis heute noch eine teils wilde, in den 50er-Jahren auch aufgrund von ethnischen Säuberungen menschenleere Region, die zugleich eine der landschaftlich schönsten Gegenden Europas ist, in der immer noch Wisente, Wölfe und Bären frei leben.

In einem Punkt ist das "Alphabet der polnischen Wunder" bereits jetzt nicht mehr aktuell: Eine der erfreulichsten Nachrichten der letzten sechs Monate aus Polen - neben dem Wirksamwerden des Schengener Abkommens an der deutsch-polnischen Grenze - war die Abwahl immerhin des ersten Kaczynski-Zwillings. Beide hatten sich zuvor auf eher mäßig sachliche Weise Gehör verschafft, traten auf als zwei tapsige, kleine politische Elefanten, ausgestattet mit untrüglichem Gespür für international-politische Porzellanläden, und auch sonst nicht immer unbedingt mit dem größten Durchblick gesegnet. Ein erneutes Paradebeispiel, dass man die Bevölkerung eines Landes niemals unkritisch nach ihren offiziellen, politischen Vertretern beurteilen darf. Der plötzliche Regierungswechsel und die Neuwahl im vergangenen Herbst, bei der bekanntlich Donald Tusk den diplomatisch eher unbegabten Jaroslaw Kaczynski ablöste, geschah unmittelbar nach Veröffentlichung des Buches, was es möglich macht, manch politisches Statement beim Lesen mit einem erleichterten Seufzer zu kommentieren. Den größten, oder zumindest die beste Gelegenheit für einen solchen bietet der letzte kurze Text zum Stichwort "Zwillinge", man ahnt, wer gemeint ist: Die Gebrüder Kaczynski spielten 1962 tatsächlich die Hauptrollen in der Verfilmung eines Kinderbuches von Kornel Makuszynski, über zwei Zwillinge, die den Mond stehlen wollen, "um ihn zu versilbern". Schlusssatz von Buch und Artikel: "Ihre Zwillingsseele triumphiert: Nun haben sie den Mond." Von wegen. So schnell kann's gehen.

Dafür erhält der Leser einen Einblick in die polnische Sicht auf deutsch-polnische Themen nicht nur der letzten Zeit. Der Affront, der sich hinter der Ostseepipeline verbirgt, wird ebenso erläutert wie auch die heutige, mittlerweile durchaus sehr reflektierte Sicht der Polen auf die Vertreibung der Deutschen - was man von den hiesigen Lobbyisten der Vertriebenenverbände nicht gerade behaupten kann. Außerdem: Welcher Deutsche kennt sich schon mit den etwa oben angedeuteten, ebenfalls nicht wenigen und nicht weniger dramatischen und tragischen Fällen in der Geschichte aus, in der Polen vertrieben wurden?

In Europa wachsen Ressentiments und Vorurteile, wenn der Blick nach Osten geht, das ist auch bei unserem östlichen Nachbarn nicht anders. Die Zugehörigkeit zum sozialistischen Ostblock als ebenfalls sozialistische Volksrepublik unter russischem Einfluss wurde von der breiten Masse in Polen nicht getragen. Man darf nicht vergessen, dass sich Polen selbst (natürlich berechtigt) als nicht bloß geografisch zentraleuropäisches Land betrachtet, dessen Blick stets nach Westen, gerne etwa nach Frankreich, gerichtet ist und war.

In den Zeiten des Kalten Krieges und des Ostblocks war für die Polen die Bundesrepublik so das nächste Land im Westen, und die Polen für Deutsche das nächste im Osten - diese Perspektive ist bis heute noch nicht verschwunden. Und Polen war und ist (natürlich vollkommen unberechtigt) immer noch ein blinder Fleck auf der Karte des Durchschnittsdeutschen. Dagegen haftet (besonders dem ehemaligen West-)Deutschland in Polen umgekehrt immer noch ein wenig der Status des gelobten, kapitalistischen Landes an, in das - aufgrund des immensen Lohngefälles - selbst Polen mit Hochschulabschluss reisten, um vergleichsweise einfache Arbeiten auszuführen.

Dabei wäre schon die abendländische Kultur und Wissenschaft ohne die polnischen Beiträge erheblich ärmer, wenn nicht in Teilen undenkbar: Nikolaus Kopernikus, Marie (Sklodowska-)Curie, Fryderyk Chopin, Henryk Sienkiewicz, Stanislaw Lem, Roman Polanski, Krzysztof Penderecki, Johannes Paul der II. (versuchen Sie gar nicht erst, die seinen Namen tragenden Straßen oder ihm gewidmeten Denkmäler zu zählen) - um nur einige wenige zu nennen.

Eine andere im Buch vorgestellte, nicht annähernd derart große, dafür bedenkliche und nicht zu verharmlosende Rolle hingegen spielt seit einigen Jahren Pater Tadeusz Rydzyk, Gründer des ihm nach wie vor unterstellten Radio Maryja: Ein erzkatholischer, rechter, nationalistischer und antisemitischer Demagoge, der zwar Gott sei Dank nicht einmal von der Mehrheit der Polen ernst genommen wird - dennoch von deutlich zu vielen. Obwohl berühmt-berüchtigt, fürchten letztlich doch einige, wenn nicht die meisten Politiker seinen Einfluss. Seine Anhängerschaft rekrutiert sich unter anderem aus fanatisch-katholischen, älteren Frauen, deren Markenzeichen und - als pars pro toto - Bezeichnung mittlerweile das Mohair-Barett ("moherowy beret") geworden ist. Auch die Wahl der Kaczynski-Zwillinge gründete sich unter anderem auf seine Unterstützung.

Das "Alphabet der polnischen Wunder" thematisiert auch den in Deutschland eher unbekannten, dennoch sehr ausgeprägten polnischen Humor, der sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass ein Pole in dieser Hinsicht vor praktisch nichts Halt macht, sympathischerweise auch nicht vor sich selbst. Hierzulande sind die Witze mit oder über Polen zumeist herzlich einfältig, in der Regel soll eine Pointe mit irgendeiner Art von Diebstahl erzielt werden. Ein Klassiker und im Buch angeführtes Beispiel: "Woher wissen wir, dass die Polen im Weltall sind? Weil der große Wagen weg ist." Ein Wort, das, dem Buch zufolge, im Polnischen nicht nur den Diebstahl, sondern speziell den Diebstahl, den ein Pole in Deutschland begeht, bezeichnet, lautet "juma".

Ein Zitat an anderer Stelle des Buches, unter dem Lemma "Diebstahl": "Die slawische Seele" ist "auch zu verblüffend nüchternen Urteilen fähig: Wir lieben zwar das Chaos und die Anarchie. Aber wir wissen auch, dass ein Diebstahl ein Diebstahl ist. Ganz egal ob man einen Audi oder die Freiheit eines ganzen Volkes klaut."

So großartig es ist, dass ein solches Buch verlegt wird und der Unwissenheit der Deutschen in der Wahrnehmung Polens entgegenwirkt, so begrüßenswert es ist, dass man in den nationalen Errungenschaften und Eigenheiten nach Belieben stöbern und sich einen Überblick verschaffen kann, könnte der Erfolg des Buches wohl auch dadurch beeinträchtigt werden, dass Polen als Land (noch) nicht ganz so hip und trendy ist, und noch vor Oktober 2007 die damals sich noch an der Macht befindlichen, moralisch und diplomatisch hochgradig fragwürdigen bis unfähigen Regierungsparteien und deren Vertreter die Attraktivität Polens nicht unbedingt steigerten.

Jedoch: Sie kennen Europa nicht vollständig, wenn Sie nie in Polen waren, in einem Land, das sich nicht nur in seiner Landschaft und seiner Fauna, etwa in den 23 Nationalparks, nicht nur in seiner oft noch bis heute erhaltenen, mittelalterlichen (nicht nur) städtischen Bausubstanz bewahrt hat, was etwa in Deutschland zerstört oder verloren gegangen ist, sondern dessen nationale Geschichte auch beispiellos im restlichen Mitteleuropa ist.

Buchen Sie eine Städtereise etwa nach Krakau oder nach Danzig, machen Sie einen Abstecher in die Vorkarpaten, nach Masuren oder in die Hohe Tatra, und sowohl davor oder auch danach, taugt dieses Buch als intelligente und vertiefende Einführung in Mentalität und Kultur Polens.


Titelbild

Stefanie Peter (Hg.): Alphabet der polnischen Wunder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
328 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419335

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