Familienchronik und surrealistischer Wahnsinn

"Die Wissenden" von Mircea Cartarescu verbinden Vergangenheit und visionäre Zukunft

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz harmlos fängt es an: Mircea sitzt einsam und gedankenverloren in seiner Wohnung am Fenster und schaut auf Bukarest, auf seine Häuser und Bewohner. Dort saß er schon als Kind, als Jugendlicher und nun sitzt er da als schreibender Erzähler. Wenn er nicht hinausschaute auf die Stadt im Morgen- oder Abendlicht, bei Regen oder Schneefall, dann las er. Aus Mirceas Perspektive reihen sich nachfolgend in einer rasanten Mischung aus realitätsnaher Erinnerung, Traum, Halluzination und Betrachtung Episoden aneinander, die auf einer Ebene die Geschichte seiner Familie nachzeichnen. Die Badislavs stammen aus einem bulgarischen Rhodopental. Über die Donau gelangt der Clan, darunter der nabellose Vorfahre von Mirceas Großvater, 1845 in die Walachei. Schlaglichtartig werden die Kindheit und Jugend der Mutter des Erzählers, die junge Liebe zwischen seinen Eltern und seine eigenen Erfahrungen beleuchtet. Der Erzähler thematisiert persönliche Kindheitsfreuden und -ängste, Initiationserlebnisse auf dem Weg zum Erwachsenwerden, sein Verhältnis zu den Eltern und zum sozialen Umfeld.

Entsprechend sind die Schauplätze der Handlung ein bulgarisches Dorf, die zugefrorene Donau, ein rumänisches Dorf und vor allem immer wieder Bukarest. Sehr plastisch und eindringlich wird das dortige Leben junger Lehrmädchen in der Vorstadt und die mondäne Welt der Nutten und Transvestiten geschildert, wie auch Bombenabwürfe im Krieg, Arbeitervergnügen der Nachkriegszeit oder die Stadtentwicklung in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Diese historisch nachvollziehbaren Begebenheiten sind jedoch durchdrungen, ja geradezu überwuchert von surrealen, übernatürlichen Geschehnissen, die ihren inspirierenden Ursprung in Volksliteratur, Mythen und Religion haben. Dabei sind metaphysisches, magisches und naturwissenschaftliches Denken in äußerst origineller Weise miteinander verknüpft. So wird die Sippe der Badislavs, die dem Rausch des Mohns verfallen war, in einem gewaltigen, alle Register der Phantasmagorie ziehenden Kampf zwischen den Toten und Dämonen der Unterwelt und Engeln aus ihrer Heimat vertrieben.

Immer wieder pendeln die Romanfiguren zwischen dem historisch-realen Lebensbereich und phantastischen Unter- oder Nebenwelten, die fremdartige, unvergleichliche, organisch anmutende Orte und Erfahrungen eröffnen und kaum mit dem alltäglichen Wortschatz zu beschreiben sind. Daher greift der Autor zu fachwissenschaftlichem Vokabular und beweist sein erstaunliches Wissen in Anatomie und Physiologie und vor allem in der Neurologie, wenn er bildhaft Körperbau und -funktionen, insbesondere des Gehirns, in Erlebnisräume oder analoge Handlungen wandelt. Wie ein allmächtiges Auge dringt er in unerhörte Tiefen der Existenz vor oder schaut auch schon mal als Fötus nach draußen in die Welt. Menschen und andere Organismen werden durchsichtig, Inneres kehrt sich nach außen.

Auf einer zweiten Ebene wird die mysteriöse und schreckenerregende Sekte der Wissenden eingeführt, die als ein machtvolles "Komplott für den Wandel" hin zu einer neuen Antiwelt die Gesellschaft unterwandert und an einem unheimlichen Paralleluniversum arbeitet. Auch der schreibende Erzähler sieht sich als auserwählter Schöpfer den Wissenden zugehörig. Beunruhigend ist am Ende die ekstatische Verkündung eines neuen Evangeliums und die Verheißung einer Apotheose.

Den ganzen Roman durchzieht das Motiv des Schmetterlings, der in vielen Varianten auftaucht: in riesiger Dimension ins Eis der Donau gefroren, auf dem Ring einer Halbweltdame oder als Mal auf dem Körper seiner Mutter sichtbar, gar den Geschmackspapillen von Jungfrauenzungen entschlüpfend. Der Schmetterling ist auch Metapher für den Menschen, der "zwischen Vergangenheit und Zukunft wie der wurmförmige Körper des Schmetterlings zwischen seinen beiden Flügeln" steht, und für die Metamorphosen des Lebens schlechthin. Auch in der Titelgebung seines Romanwerkes nahm der Autor darauf Bezug. Als Trilogie angelegt, tragen die zwischen 1996 und 2007 erschienenen Bände die Untertitel 'Linker Flügel', 'Körper', 'Rechter Flügel'. "Die Wissenden" ist die Übersetzung des ersten Bandes dieser Trilogie namens "Orbitor" (deutsch etwa 'Blendend'). Und der Erzähler sinniert an einer Stelle: "Vielleicht ist ja der Kern des Kerns dieses Buches nichts anderes als ein apokalyptischer, blendender, gelber Schrei" und so Ausdruck einer Offenbarung, wo sich Licht und Finsternis begegnen.

Das Buch kann gelesen werden als historischer und Alltagsroman, Familien- und Bildungsroman, als Selbsterkundung und Porträt der Stadt Bukarest, als philosophischer Essay und märchenhafte Gruselstory, er vereint Reales und Irreales, Naturwissenschaftliches und Religiöses. An dieser rauschhaften Darbietung, wo aus einer Geschichte immer wieder eine neue hervorquillt, überwältigt ein ungeheuer bildmächtiger und opulenter Stil mit überbordender, suggestiver Metaphorik, die reich ist an Formen, Farben, Tönen, Licht und Schatten, an Anorganischem und Organischem, an Mineralien, Flora und Fauna. Angesichts seiner Monstrosität ist dieser faszinierende Roman über "Geburt und Liebe, Kunst und Wahn, Glück und Tod" keine einfache Lektüre - der Erzähler selbst nennt ihn ein "Irrsinnsbuch" und "unlesbar" - aber doch zieht er den Leser unweigerlich in seinen Bann.

Mircea Cartarescu, 1956 in Bukarest geboren, veröffentlicht seit 1978 Lyrik und Prosa und wird inzwischen als "der größte Sprachkünstler der rumänischen Literatur" gehandelt. Sein Werk wurde vielfach übersetzt. Der Leistung Gerhardt Csejkas, der schon Cartarescus "Nostalgia" 1997 für den Berliner Verlag Volk & Welt ins Deutsche übertrug, kann man mit einem Halbsatz nicht gerecht werden. Seine kongeniale Übersetzung, die die Schwierigkeiten des Textes meisterhaft bewältigte, verdient ein großes Lob. Gern läse man auch Band zwei und drei.


Titelbild

Mircea Cartarescu: Die Wissenden. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007.
527 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054066

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch