Wahrheit ist Feuer

Roger Willemsens und Traudl Büngers Dialog über die "Weltgeschichte der Lüge"

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der mittlerweile knapp ein Jahr alten Pilotfolge zu ihrer neuesten Sendung wird Charlotte Roche von Moderatorin Kim Fisher, M.I.A.-Sängerin Mieze, Rapper Ferris MC und Journalist Roger Willemsen besucht, um gemeinsam "Wahrheit oder Pflicht" (Flaschendrehen) zu spielen. Die Sendung ist bisher nur bei YouTube zu sehen, weil Roche dafür keinen Sender gefunden hat. Das zumindest schrieben jetzt.de und die Netzzeitung im April 2007. Roger Willemsen etwa erzählt in der Sendung die Anekdote, wie er lieber ein antikes Möbelerbstück abbrennen ließ, als von der Frau zu lassen, mit der er gerade Analverkehr hatte. Wunderbar selbstironisch bis ins Mark, vor allem aber eines: Die Wahrheit.

Die Frage, ob das wirklich die Wahrheit ist oder da nur der geistreiche Genius des Autors Willemsen aufblitzt, stellt sich, liest man sein aktuellstes Buch, das er zusammen mit lit.COLOGNE-Redakteurin Traudl Bünger geschrieben hat. "Ich gebe ihnen mein Ehrenwort! Die Weltgeschichte der Lüge" heißt es und es ist der Text eines Kabarettprogramms, das Willemsen zusammen mit Dieter Hildebrandt seit Sommer 2007 auf die Bühne bringt. In einem 200 Seiten langen Dialog - das Buch ist länger als die Bühnenfassung - diskutieren das intellektuelle und das kabarettistische Schwergewicht die Frage, ob es einen Bereich menschlichen Lebens gibt, der frei von der Lüge ist. Die Antwortfindung wird dabei verpackt in einen ebenso eloquenten wie humoristischen Parforceritt durch die Menschheitsgeschichte: Religion, Wissenschaft, Aufklärung, Politik, Fernsehen und Werbung - man muss nur ein wenig suchen, und schon tritt sie zutage, die Lüge. Dass Hildebrandt dabei den Feind, Willemsen den fast-aber-nicht-ganz-Freund der Lüge mimt, gibt dem Wortwechsel zusätzliche Feuerkraft. Am Ende dann ist nicht nur der Mensch, sondern auch das Tier der permanenten Lüge, der Täuschung, dem Vorgaukeln überführt. Und in ihren unterschiedlichen Rollen vermögen Willemsen und Hildebrandt dieser Erkenntnis unterschiedliche Fazits abzugewinnen: Das Lügen gehöre nun mal zum Leben dazu, so Willemsen. Hildebrandt kontert, dass es urmenschlich sei, die Wahrheit zu suchen.

Belege gibt "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!" für beides, auf eine sehr unterhaltsame Weise. Das liegt vor allem an den Autoren Bünger und Willemsen, die den Figuren Willemsen und Hildebrandt viel Stoff zum Schwadronieren geben. Und so präsentiert sich das Buch dem Leser als Tür zu einem Kleinkunsttheater, auf dessen Bühne sich Willemsen und Hildebrandt treffen, um miteinander, mit und für das Publikum über die Lüge zu sprechen: zu sticheln, zu schmeicheln, sich zu übertreffen, zum Nachdenken und zum Lachen anzuregen. Das ist natürlich bürgerlicher als Charlotte Roches Wohnzimmer, in dem Willemsen Analsexgeschichten erzählen muss, weil die Flasche auf ihn zeigt. Willemsen und Hildebrandt aber brauchen das Flaschendrehen nicht, um mit Wahrheiten rauszurücken, sie erzählen aus einer inneren Notwendigkeit, einem Zwang heraus. Das ist am Ende zwar nicht ganz, aber fast so unterhaltsam, wie die Vorstellung von Willemsen, der im Schein der knisternden Kommode kopuliert. Wie sagte Friedrich Dürrenmatt: "Wahrheit ist Feuer." Wie wahr.


Titelbild

Dieter Hildebrandt / Roger Willemsen: Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Die Weltgeschichte der Lüge. Ein Dialog.
Ein Text von Traudl Bünger und Roger Willemsen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
218 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783100301406

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