Bloß keine Ehrfurcht

Torsten Hoffmann spürt "Konfigurationen des Erhabenen" in der Literatur nach

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade hatten wir - Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre - begonnen, uns von der humanistisch-sozialistischen Utopie des aufrechten Gangs zu verabschieden, weil Klaus Theweleit alles nach oben Strebende, Große, Hohe und Erhabene als Produkt phallozentrischer, faschistoider Männerfantasien enttarnt und mit seiner Anempfehlung des Sumpfigen, Matschigen und Nassfeuchten, also des freien Fließenlassens à la Gilles Deleuze, Félix Guattari und anderer, die Lufthoheit über Vorlesungsbänke und Seminartische erobert hatte. Da erscholl von jenseits des Rheins ein Ruf, der wirklich überraschte: "Le sublime est à la mode!" Mit dem Aufsatz "Das Erhabene und die Avantgarde" des Oberpostmodernisten Jean-François Lyotard war plötzlich ein Begriff rehabilitiert, der nach dem Untergang der Erhabenheitsaspirationen der Nazis vier Dekaden lang in geistesgeschichtlicher Quarantäne hatte zubringen müssen.

Der Göttinger Germanist Torsten Hoffmann unternimmt nun in seiner Dissertation (beim hier zu besprechenden Buch handelt es sich um eine leicht veränderte Fassung derselben) eine Rekapitulation des damaligen Erhabenheitsaufschwungs, indem er dessen literarische Reflexe identifiziert und untersucht: Texte von Peter Handke, Christoph Ransmayr, Raoul Schrott und Botho Strauß werden einer literaturwissenschaftlichen Mikroanalyse unterzogen; will sagen, mit dem Forschungsinteresse ausgeleuchtet, ob und inwieweit sich "Konfigurationen des Erhabenen" aufspüren lassen. Und da ein solches Unterfangen ohne ein gewisses methodologisches Grundgerüst akademisch nun einmal nicht zu machen ist, stellt Hoffmann seiner Arbeit am Text einige Seiten voran, die er mit "Theoretische Modelle" überschreibt.

Wieder ist es eine Vierergruppe von Gewährsmännern (Immanuel Kant, Jean-Francois Lyotard, Martin Seel und Raoul Schrott), die der Autor zu Rate zieht, wobei Kant als ständiger - obschon kritischer - Referenzpunkt fungiert. So haben wir den Befund zu vernehmen: "Es gehört gleichsam zum Mainstream der avancierteren Forschung, Kants Analytik des Erhabenen zwar als irrelevant für das Phänomen 'Erhabenheit' zu kennzeichnen, ihr aber dennoch den prominentesten Platz in der Theoriegeschichte zuzuweisen." Das lädt zum Nachdenken ein.

Wichtiger als Kants Überlegungen in der "Kritik der Urteilskraft" seien derzeit, so Hoffmann, die Positionen zweier Männer, die sich seit 1984 mit der Frage beschäftigt haben, was denn nun erhaben sei: Lyotard und Seel. Lyotard "befreie" - comme il faut - "das Erhabene von Kants metaphysischer Bewältigungsstrategie", wenngleich er ihn womöglich überhaupt nicht adäquat rezipiert habe ("Trotz seiner Beteuerung, 'Kant vollkommen getreu zu sein', weicht Lyotard [...] zumindest in dreifacher Hinsicht von Kant ab.") Zugegebenermaßen finden sich bei Kant einige für das "postheroisch" (Herfried Münkler) gestimmte Ohr überaus anstößige Äußerungen wie diese: "Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handlungsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pflegt."

Es schien damals unter der denkenden und dichtenden Elite jenseits wie diesseits des Rheins die Übereinkunft geherrscht zu haben, man müsse das Erhabene neu bestimmen, indem man es von jeder metaphysischen Altlast säubert. Eben da war Jean-François Lyotard impulsgebend, indem er unter Rekurs auf den Abstrakten Expressionismus Barnett (Baruch) Newmans und dessen Parole "The sublime is now" das Erhabene als ein Phänomen der Kunstproduktion fasste, welches die überkommenen Wahrnehmungs- und vor allem Zeitstrukturen sprengt und aussagt, dass die Kunst das Unsagbare nicht sagen kann: "Daß hier und jetzt dies Bild ist, und nicht vielmehr nichts, das ist das Erhabene".

Martin Seel hingegen, dem Hoffmann am ehesten zugeneigt scheint, lieferte eine "Apologie des Naturerhabenen" als einer "ganz profane[n] Angelegenheit". Der Autor unseres Buches referiert Seel folgendermaßen: "Im Gegensatz zur theoretischen Kontemplation (etwa bei Platon oder Schopenhauer) gehe es der ästhetischen Kontemplation [des Erhabenen] nicht um Erkenntnis 'der Ideen, der Allmacht Gottes, des Wesens der Dinge, des Seins im ganzen'. Das Besondere dieser Form der Naturwahrnehmung liege gerade darin, dass sie sich jeder Sinnsuche kategorisch verweigere. Da die ästhetische Kontemplation die Bedeutung der Naturgegenstände völlig außer Acht lasse, 'sind wir frei von allem Zwang der verstehenden Orientierung - sie befreit die Sinne vom Erfassen eines Sinns'."

(Post-) moderne Erhabenheit präsentiert sich demnach als "Befreiung 'von allen teleologischen Orientierungen'". Aus kritischer Distanz darf man aber vielleicht mit dem Marburger Philosophen Reinhard Brandt fragen, ob eine derartige Sicht nicht einen absoluten ästhetischen Nihilismus postuliert - und auf welche Weise denn literarische Texte, die ja immerhin noch sprechend etwas mitteilen möchten, damit korrespondieren können.

Also begibt man sich mit Torsten Hoffmann gute 250 höchst intensive Seiten lang auf Erkundungsfahrt und entdeckt Sphären des literarisch Erhabenen in - so die Gliederungsüberschriften der fünf Abteilungen des Hauptkapitels - "Natur" (bei Peter Handke, Christoph Ransmayr und Schrott), "Sprache" (bei Schrott und Botho Strauß), "bildender Kunst" (bei Ransmayr und Strauß), "Politik, Krieg und Holocaust" (bei Strauß und Schrott) sowie "Naturwissenschaft" (bei Strauß).

Exemplarisch für das neue, gleichsam enthoheitlichte Erhabene steht eine Wendung aus Handkes Journal "Am Felsenfenster morgens", mit der das Subjekt Verzicht leistet auf die - kantische/idealistische - Selbstermächtigung qua überlegene, autonome Vernunft und sich zu seiner Ohnmacht im überwältigenden Anblick der Heterogenität der Naturerfahrung bekennt. Handkes Notiz lautet: "Sich dem Zustand der Wahrheit nähern, d.h. der erhabenen Schwäche."

Handkes Diktum propagiert jedoch nicht nur die Revision des Anthropozentrismus und somit die Depotenzierung des Menschen, sondern indiziert ebenso wie die meisten der von Hoffmann untersuchten Texte den literarischen Anspruch auf Wahrheit; anders gesagt, auf höchstmögliche "Aufrichtigkeit", so dass das generalisierende Prädikat "postmodern" eigentlich deplaziert ist. Jedoch: Wahrheit ohne jede transzendente und transzendentale Anbindung, ohne ein wahrheitsfähiges Subjekt? Das scheint paradox genug, und Hoffmann findet für diesen Sachverhalt die einzig treffende Formulierung, nämlich die der "nachmetaphysischen Metaphysik".

Unumgehbar war die Bezugnahme auf Raoul Schrotts "Tropen", eine Zusammenstellung aus eigenen Gedichten und theoretisierenden Glossen, die den expliziten Untertitel "Über das Erhabene" trägt. Darin lesen wir etwa: "die sonne rutscht vom dach / mit ihrem nackten arsch / voll roter striemen [...]" und pflichten Hoffmann ohne Zögern bei, wenn er befindet, dass das "unkonventionell" ist und "eine pathetisch-erhabene Rezeption verhindert".

Überhaupt besticht die Arbeit Hoffmanns durch eine klare Diktion, welche die Kluft zwischen dem nicht selten verquirlten Sinngehalt der Quellentexte und der Verständniswilligkeit des Lesers mit freundlicher Hand zu überbrücken hilft. Ein Fazit ist angesichts der disparaten Fülle des untersuchten Materials nicht leicht zu ziehen; war es auch für den Autor nicht, der uns schließlich noch einmal vierzig Seiten einer Zusammenfassung schenkt, an deren Ende er uns ermutigt, bloß nicht in Ehrfurcht vor einer Erhabenheitsrhetorik zu erstarren, der "zumindest bei Schrott durchaus etwas Modisches anhaftet." Und Hoffmann mahnt: "Die inflationäre Verwendung des Begriffs birgt die Gefahr, dessen ohnehin recht offene Semantik weiter auszufransen und eine zukünftige produktive Auseinandersetzung mit dem Erhabenen eher zu erschweren."

Hier nun konfligiert zwar die gute alte Hoffnung des Wissenschaftlers, der den Sinn nicht preisgeben möchte, mit dem Postmodernismus Lyotard'scher Observanz, welcher im Insistieren auf signifikative, "unausgefranste" Bedeutung eine unzulässige "Anmaßung des Geistes" wittert; sie befindet sich aber in Konkordanz mit einer Interpretation der avancierten Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die bei aller Anerkennung der Heterogenität die anscheinend unaufgebbare Dignität des Homogenen nicht preisgeben möchte.

Alles in allem bietet Hoffmanns Buch, das zum Studium des Themas des Erhabenen in der literarischen Produktion der letzten Jahre unerlässlich ist, zu einem allerdings sublimen Erstehungspreis eine Lektüre, die - wie ja jede Erfahrung des Erhabenen - Unlust (Mühe des Aufstiegs zur Erkenntnis) und Lust (Gipfelglück) gleichermaßen bereitet. Berg Heil also!


Titelbild

Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauss).
De Gruyter, Berlin 2006.
417 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110184478
ISBN-13: 9783110184471

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