Regulative Ideen

Lorraine Daston und Peter Galison legen eine (Bilder-)geschichte wissenschaftlicher "Objektivität" vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als theoretische Grundlage des Wissenschaftlichen Sozialismus' behauptete der Marxismus-Leninismus bekanntlich, dass die Merkmale und Prinzipien seiner Forschungen der Objektivität verpflichtet seien und deren Resultate die Realität adäquat widerspiegelten. Zugleich aber kritisierte er eine Wissensform, die er Objektivismus nannte. Im Unterschied zu seiner eigenen "bewussten Parteilichkeit" verhalte sich der Objektivismus nicht nur gleichgültig gegenüber den gesellschaftlichen Folgen seines Forschens, sondern hänge zudem der Ideologie an, vollkommen voraussetzungslos zu seinen Ergebnissen gelangen zu können.

Mit dem Marxismus-Leninismus ist vor etlichen Jahrzehnten auch der Wissenschaftliche Sozialismus mitsamt seinem Objektivitätsanspruch sanft entschlafen und 1989 in aller Stille beerdigt worden. Mit anderen Worten: Er ist Geschichte. Dafür, dass er und seine Objektivismuskritik in der nun von den WissenschaftshistorikerInnen Lorraine Daston und Peter Galison vorgelegten Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität mit keinem Wort erwähnt wird, kann man Verständnis haben.

Anders verhält es sich mit der von feministischer Seite erhobenen Kritik an der Möglichkeit objektiven Wissens. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Zunächst kann konstatiert werden, dass Daston und Galison sie erwähnen. Womit der erste Unterschied genannt wäre. Sodann ist zu sagen, dass sie gerade ein einziges Mal angesprochen und sogleich in wenigen Sätzen gemeinsam mit anderen objektivitätskritischen und -skeptischen Ansätzen abgetan wird, wofür man - und das ist der zweite Unterschied - kein Verständnis haben kann.

Die eine "Partei" der ObjektivitätskritikerInnen und -skeptikerInnen "bezweifel[t]" "die Möglichkeit, die andere die Wünschbarkeit von Objektivität", explizieren die AutorInnen. Sie wischen beide quasi mit einer Handbewegung vom Tisch, indem sie erklären, die derzeitigen "heftigen Auseinandersetzungen in politischen, philosophischen und feministischen Kreisen über die Existenz [richtig wäre: die Möglichkeit, R.L.] und/oder Wünschbarkeit der Objektivität in der Wissenschaft" beruhten auf einem "wirre[n] Knäuel" diverser Vorstellungen dessen, was Objektivität ist. "[S]tatt es zu entwirren" sprängen die ObjektivitätskritikerInnen "in einem einzigen Textabsatz von metaphysischen Universalitätsbehauptungen zu moralischen Verurteilungen der Gleichgültigkeit" - ein Vorwurf, der zwar hier und da berechtigt sein mag, entgegen seiner Allaussage allerdings sicher nicht auf jede objektivitätskritische Überlegung zutrifft. Die AutorInnen machen sich allerdings nicht einmal die Mühe, auch nur ein einziges Beispiel anzuführen, dass ihren Tadel rechtfertigen könnte.

Vielmehr gehen sie unmittelbar dazu über, ihrem zwar niederschmetternden, aber unbewiesenen Befund Abhilfe zu verschaffen - womit Anliegen und Ziel des Buches benannt sind. Doch da es ihnen "wenig hilfreich" erscheint, sich auf die Begriffsanalyse der Objektivität zu beschränken, untersuchen sie statt Begriffen wissenschaftliche Handlungen und statt Bedeutungen Praktiken. Ungeachtet des abstrakten Themas gelingt ihnen das erfreulich allgemeinverständlich.

Wie die AutorInnen darlegen, ist die Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität "nur kurz". In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts feierte sie ihren "erstaunlichen Auftritt", wurde um 1860 "dominant" und verlor im 20. Jahrhundert schon wieder an Glanz. Somit ist sie nur eine "Teilmenge" der "viel längeren und weitergefassten Geschichte der Erkenntnistheorie". Diese definieren Daston und Galison etwas eigenwillige als "philosophische Erforschung der Hindernisse, die dem Erkennen und Wissen entgegenstehen". Das klingt zwar zunächst einmal nicht schlecht, greift allerdings doch etwas kurz und vielleicht sogar ein wenig daneben. So blende die Definition aus, dass der Begriff "Erkenntnistheorie" sowohl als Ober- wie auch als Unterbegriff fungiert und sowohl eine philosophische Disziplin wie auch die in dieser Disziplin von PhilosophInnen entwickelten Theorien bezeichnet. Entsprechend dieser hat jeder von ihnen seinen eigenen Begriff dessen, was Erkenntnistheorie als Disziplin sei. So ist es denn auch durchaus zulässig, dass Daston und Galison ihr eigenes Verständnis der Disziplin definieren, das von der doch weithin geteilten Übereinkunft abweicht, der zufolge sich die Disziplin mit den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis und deren Grenzen befasst.

Darauf aufmerksam zu machen, ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil der Begriff der Erkenntnistheorie in dem vorliegenden Buch einen prominenten Rang einnimmt und - abgesehen von der titelstiftenden "Objektivität" - wohl kaum ein Terminus so oft fällt wie eben dieser.

Tatsächlich handelt das vorliegende Buch aber gar nicht von Fragen, Möglichkeitsbedingungen, Problemen oder auch von den "Hindernisse[n], die dem Erkennen und Wissen" schlechthin "entgegenstehen", sondern von der "Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität", von ihren Ausformungen als mechanischer und struktureller Objektivität und ihren wissenschaftsgeschichtlich vorgängigen und folgenden Alternativen seit dem 18. Jahrhundert. Somit behandelt das Buch also nicht Fragen des Erkennens überhaupt, sondern solche wissenschaftlichen Erkennens. Darum verwundert es etwas, dass die AutorInnen auf den Begriff der Erkenntnistheorie rekurrieren und nicht auf den näherliegenden der Wissenschaftstheorie, der die Reflexion auf die paradigmatischen Fundamente, die erkenntnisstiftenden Methoden und die Erkenntnisziele der Wissenschaften zielt und somit angemessener erscheint. Begründet wird die Entscheidung für den Terminus Erkenntnistheorie von Daston und Galison nicht.

Die Geschichte der Objektivität und ihrer Alternativen verfolgen und illustrieren die AutorInnen anhand wissenschaftlicher Atlanten, wobei das reiche - zu einem nicht geringen Teil farbige - Bildmaterial des Buches den Argumentationsgang und seine Exempel nachvollziehbarer und anschaulich macht. Für ihre Beschränkung auf wissenschaftliche Atlanten führen die AutorInnen vor allem drei Gründe an. Zunächst seien gerade sie geeignet zu zeigen, "daß epistemische Werte Praxis wie Prinzip der Wissenschaften durchdrangen"; sodann, "weil wissenschaftliche Atlanten zeit- und fachübergreifend von zentraler Bedeutung für die wissenschaftliche Praxis waren"; und schließlich, "weil Atlanten Maßstäbe dafür setzen, wie Phänomene gesehen und abgebildet werden sollten."

Wie Daston und Galison darlegen, wurden zu Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr nur geografische Darstellungen als Atlanten bezeichnet, sondern zudem sowohl astronomische wie auch anatomische. Seit der Mitte des folgenden Jahrhunderts werden sie darüber hinaus als "Bildwerke aller empirischen Wissenschaften benutzt", deren Wissen sie sozusagen kartographieren. Die Geschichte wissenschaftlicher Objektivität anhand von Atlanten zu erzählen, begründen die AutorInnen neben den bereits genannten drei Motiven im Weiteren denn auch damit, dass diese "Auswahlsammlungen der Bilder" bieten, "die die signifikantesten Forschungsgegenstände eines Fachs bestimmen".

So gerät die vorliegende Wissenschaftsgeschichte der Objektivität zugleich zu einer des wissenschaftlichen Bildatlasses und zur "Bildergeschichte der Objektivität als eine[r] Darstellung von Arten des Sehens". Dass so allerdings nicht das ganze Feld der Wissenschaften ausgeleuchtet werden kann, scheint den AutorInnen nicht bewusst zu sein. Dies mag daran liegen, dass Daston und Galison ausschließlich Naturwissenschaften als Wissenschaften gelten zu lassen scheinen. Denn sie sprechen zwar stets ganz allgemein von diesen, meinen aber offenbar immer nur jene, wofür sich folgende Erklärung anbietet: Vermutlich benutzen die AutorInnen, von denen der eine "über Physik" arbeitet, "die andere über Naturphilosophie", im englischen Original den Begriff science, der zwar in einem allgemeineren Sinne die Wissenschaften überhaupt, in einem engeren aber die Natur- und auch die Sozialwissenschaften im Unterschied zu den humanities bezeichnet. Womöglich haben die AutorInnen die engere Bedeutung des Begriffs science im Sinn, doch Christa Krüger, die das Buch ins Deutsche übertragen hat, übersetzt ihn mit dem allgemeinen Begriff Wissenschaft. Gleichgültig, ob dieser Erklärungsversuch zutrifft, die auf Naturwissenschaften begrenzte Bedeutung des von den AutorInnen verwendeten Wissenschaftsbegriffs wird jedenfalls im Laufe der Lektüre immer wieder deutlich.

So etwa, wenn sie meinen, "[a]lle Wissenschaften" müssten "Objekte auswählen und festlegen, mit denen sich arbeiten läßt", und weiter ausführen, diese "Arbeitsobjekte" könnten "alles [sein], was überschaubar, mitteilbar und repräsentativ für den Ausschnitt der Natur ist, der untersucht werden soll. Keine Wissenschaft kommt ohne solche standardisierten Arbeitsobjekte aus, denn unbehandelte natürliche Objekte sind zu kapriziös in ihrer Besonderheit, um Verallgemeinerungen und Vergleichen zugänglich zu sein. Manchmal ersetzen die Arbeitsobjekte Proben aus der Natur." [Herv. R.L.]

"Objektiv sein", definieren die AutorInnen, bedeute, "auf ein Wissen auszusein, das keine Spuren des Wissenden hinterlässt". Dabei sei Objektivität nicht mit Wahrheit oder Gewissheit identisch, sondern könne sogar in Widerspruch mit beiden geraten, denn einerseits "bewahrt" Objektivität "das Artefakt oder die Variation, die im Name der Wahrheit ausgelöscht worden wäre", andererseits hat sie "Skrupel, das Rauschen auszublenden, das die Gewissheit unterminiert." Nach einigen anschließenden Erläuterungen zu den "Erkenntnistheorien des Auges" folgt die Gliederung des Buches im Wesentlichen der Chronologie der Wissenschaftsgeschichte.

Wie das AutorInnenduo zeigt, ist die Geschichte der Objektivität auch eine "Geschichte des wissenschaftlichen Selbst", die mit den wechselnden Vorstellungen von der "richtigen Abbildung" der Natur "unauflöslich verstrickt" ist. Die Wissenschaftsgeschichte seit dem frühen 18. Jahrhundert stellt sich den AutorInnen als die dreier "epistemische[r] Tugenden" oder "Werte" dar: "Naturwahrheit, Objektivität und geschultes Urteil". Diese wurden als "Normen" gefasst, die zum einen durch "Berufung auf ethische Werte" und zum anderen auf ihre "pragmatische Wirksamkeit" bei der Wissensgewinnung "verinnerlicht und verstärkt" werden. Wie die AutorInnen an einer Vielzahl von Beispielen überzeugend darlegen, ging der "durch Objektivität geprägten Wissenschaft" eine "durch Naturwahrheit geprägte" voraus. Das "geschulte Urteil" war hingegen eine Reaktion auf um und nach 1900 erkannte Schwächen der (mechanischen) Objektivität.

Kaprizierten sich der Naturwahrheit verpflichtete ForscherInnen auf den "Realismus der Typen" und versuchte in deren bildlicher Widergabe alles Zufällige des Einzelexemplars auszublenden, so wollten die VerfechterInnen der wissenschaftlichen Objektivität die Natur "für sich selbst sprechen" lassen. Hatte die "idealisierende Intervention" den ProduzentInnen von wissenschaftlichen Bildern und Atlanten als "Tugend" gegolten, so wurde sie nun zur "Untugend", die es zu vermeiden galt. So wird die mechanische Objektivität durch das "entschlossene Bestreben" gekennzeichnet, "willentliche Einmischungen des Autors/Künstlers zu unterdrücken und statt dessen eine Kombination von Verfahren einzusetzen, um die Natur, wenn nicht automatisch, dann mit Hilfe eines strengen Protokolls sozusagen aufs Papier zu bringen." Ein zwar zu erstrebendes, jedoch nie zu erreichendes Ziel, mithin also eine regulative Idee, wie den "Parteigänger[n]" der mechanischen Objektivität den AutorInnen zufolge sehr wohl bewusst war. Dies steht allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu deren späterer Feststellung, dass es bis zum beginnenden 20. Jahrhundert dauerte, bis "mehr und mehr Wissenschaftler" die Auffassung zu vertreten begannen, "daß Subjektivität nie ganz auszurotten war" und so der "Glaube an die mechanische Objektivität" zu schwinden begann.

Diese Kritik an der mechanischen Objektivität evozierte zwei unterschiedliche Reaktionen, welche die AutorInnen unter den Titeln "strukturelle Objektivität" und "geschultes Urteil" verhandeln. Ein Teil der ehemaligen "Jünger der Objektivität" verließ um 1900 "das Reich der Sinne" und "floh vor der üppigen, verwirrenden Vielfalt der Einzelheiten zu den kargen Strukturen der Mathematik und Logik". Andere bildeten eine "neue Klasse wissenschaftlicher 'Fachleute'", welche die "rigorose Treue zur Objektivität" aufgab und sich statt dessen für das geschulte Urteil entschied, "das weniger ein Willensakt war als eine Fertigkeit, die man lernen und praktizieren konnte".

AnhängerInnen der ersteren verstanden Strukturen als "mathematisch ausgedrückte Naturgesetze" und ersetzten die Erkenntnisideale der mechanischen Objektivität durch "invariante Strukturen", "gesetzesartige Zeichensequenzen", "Differentialgleichungen" und "logische Beziehungen". Während die mechanische Objektivität ein "wissenschaftliches Selbst" gezügelt hatte, "das allzu sehr dazu neigte, seine eigenen Erwartungen, Hypothesen und Kategorien den Daten überzustülpen", galt dieses den VertreternInnen der strukturellen Objektivität als "unzugängliche Festung, abgeschirmt gegen die Natur wie gegen andere denkende Menschen." Sie wandten sich daher gegen ein "eingeschlossenes, privates, von Solipsismus bedrohtes Selbst" und forderten, es solle "seine eigenen Empfindungen und Ideen formalen Strukturen opfern, die allen denkenden Wesen zugänglich waren."

Trotz dieses fundamentalen Unterschiedes - "die gemeinsame Unterdrückung des Willens" einerseits, "das Ausgreifen auf eine Gemeinschaft der Vernunft 'über alle Grenzen hinaus'" andererseits - führen beide Ansätze zu recht den Begriff Objektivität im Schild. Denn "[d]ie Gemeinsamkeit zwischen der mechanischen und der strukturellen Objektivität bestand nicht darin, daß sie beide Anspruch erhoben hätten, unverstellte Tatsachen zu enthüllen, sondern darin, dass sie einen gemeinsamen Feind hatten: die Subjektivität."

Die zweite Reaktion auf die als fragwürdig erkannte regulative Idee mechanischer Objektivität - das geschulte Urteil - ergänzte das "Bestreben, ein objektives Bild mechanisch herzustellen", durch eine "Strategie", "die ausdrücklich bestätigte, daß für die Herstellung und Nutzung interpretierender Abbildungen geschultes Urteil notwendig war", und entwickelte sich wie zuvor schon die Objektivität und vor dieser die Naturwahrheit ebenfalls zur regulativen Idee. Dem geschulten Urteil war "das Natürliche" nicht mehr "das einzige Wunschobjekt der Wissenschaft". Vielmehr strukturierte es dieses, um seine "spezifische[n] Merkmale" zu "verdeutlichen".

Das Erkenntnisinteresse, das Daston und Galison mit ihrer (Re-)Konstruktion von Wissenschaftsgeschichte verknüpfen, besteht darin, sowohl die Bedingungen epistemischer Instabilität zu erfassen als auch die sich daraus ergebenden neuen Muster zu erkennen. Eine der "Hauptthesen" des Buches lautet, dass die "epistemische[n] Tugenden" einander nicht einfach ablösen, sondern dass es sich um eine "durch Neuartigkeit akzentuierte Abfolge" handelt. Die AutorInnen illustrieren ihre Auffassung mit der Metapher eines gestirnten Himmels: Neu entdeckte Sterne ersetzen die alten nicht, sondern verändern die Topografie. So ist auch jedes "Folgestadium" epistemischer Tugenden "nicht nur eine Reaktion auf die vorangegangenen, sondern setzt sie auch voraus und baut auf ihnen auf." Im "Gegensatz" zu den "statischen Tableaus der Paradigmen" bildeten die epistemischen Tugenden eine "Geschichte dynamischer Felder, in der neu hinzugekommene Körper die schon vorhandenen neu anordnen und umformen - und ihrerseits umgestaltet werden." Zwar bleibt die sich aufdrängende Frage unbeantwortet, wie Körper, die erst neu hinzukommen, zugleich umgestaltet werden sollen (vielleicht wäre es treffender, einfach davon zu sprechen, dass sie ihrerseits von den bereits vorhandenen mitgestaltet werden). Deutlich wird allerdings, dass sich die AutorInnen mit dieser Auffassung implizit gegen Thomas Samuel Kuhns im vorliegenden Buch nicht erwähnter Theorie revolutionärer Paradigmenwechsel in den Wissenschaften wenden. Dies wird auch durch eine Metapher unterstrichen, der zufolge Objektivität (ebenso wie die anderen epistemischen Tugenden) "weder Produkt einer Evolution noch einer überraschenden Explosion in der wissenschaftlichen Szene und auch kein plötzlicher Gestaltwandel" sei, sondern vielmehr eine "Lawine", die zwar alles bisherige unter sich begräbt, aber auch zugleich mit sich führt. So wurde die mechanische Objektivität ebenso wenig von der strukturellen Objektivität oder vom geschulten Urteil "entthront", wie diese seinerzeit das Ideal der Naturwahrheit von deren Herrschersitz stieß. "Vielmehr erweiterte sich der Kodex epistemischer Tugenden" jeweils, wobei allerdings zugleich das "Potential der Konflikte zwischen ihnen" wuchs.

Wie die AutorInnen deutlich machen, korrespondiert den drei epistemischen Tugenden je ein "exemplarischer Wissenschaftler": der Naturwahrheit entspricht der "Weise, dessen gut gefülltes Gedächtnis eine lebenslange Erfahrung [...] zusammenfasst"; mit der (mechanischen) Objektivität geht der "unermüdliche Arbeiter" einher, "dessen starker Wille sich nach innen gegen sich selbst kehrt, um das Selbst auf eine passiv registrierende Maschine zu reduzieren" und das "geschulte Urteil" wird schließlich von einem "intuitive[n] Experte[n]" gefällt, "der sich auf sein unbewusstes Urteil verlässt, um die Erfahrung schon im Akt des Wahrnehmens zu Mustern zu ordnen." Daston und Galison betonen, dass es sich bei diesen Typen selbstverständlich um "Idealpersonen" handelt: "Der weise Gelehrte, der nach Naturwahrheit suchte, trainierte sein Gedächtnis und seine Fähigkeit zur synthetischen Wahrnehmung; der hart arbeitende Held der Objektivität stählte seinen Willen zum Widerstand gegen Wunschdenken und sogar gegen mentale Bilder; der selbstgewisse Experte vertraute seinem auf gut geschulter Intuition beruhenden sachkundigem Urteil."

Im letzten, "Von der Repräsentation zur Präsentation" betitelten "notgedrungen vorläufige[n] Abschnitt" widmen sich die AutorInnen dem, "was jetzt, während wir schreiben, vor sich geht", und betrachten einen neuen, derzeit um sich greifenden "Atlastypus", der zwar wie seine Vorgänger dazu dient, wissenschaftliche Bilder zu systematisieren, nunmehr aber virtuelle und haptische Bilder zeigt, die nicht länger "fixiert", sondern "bis zu einem gewissen Grad interaktiv" sind.

Ungeachtet der genannten Kritikpunkte haben die AutorInnen mit ihrer - auf die Naturwissenschaften beschränkten - Geschichte der Objektivität einen großen Wurf gelandet, dessen dreigliedriges Schema der Fundamente naturwissenschaftlichen Erkennens vermutlich für längere Zeit tragfähig bleiben dürfte. Allerdings muss noch auf einen Mangel formaler Art hingewiesen werden: Ein Literaturverzeichnis wäre durchaus hilfreich. Aus unerfindlichen Gründen verzichten die AutorInnen jedoch darauf, den Lesern diesen in wissenschaftlichen Arbeiten gemeinhin üblichen Service zu bieten.


Titelbild

Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christa Krüger.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
530 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783518584866

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