Schlüsselbilder

Analyse von Fotografien der Zeitgeschichte

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Visual History ist für den Flensburger Geschichtswissenschaftler Gerhard Paul (siehe literaturkritik.de Nr. 3/2007) ein Sammelbegriff für Versuche, unterschiedliche Bildgattungen als Quellen für die historiografische Forschung zu nutzen und die Visualität von Geschichte wie die Historizität des Visuellen zu thematisieren. In diesem Sinne hat der Historiker Christoph Hamann (Referent im Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg) in seiner Dissertation fünf zeitgeschichtliche Schlüsselbilder analysiert: Stanislaw Muchas Bild vom Torhaus Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung des Konzentrationslagers und den Dresdener "Engel der Geschichte" von Richard Peters - beide aus dem Jahre 1945, eine Fotografie von Henry Ries zur Geschichte der Berliner Luftbrücke 1948, Wolfgang Beras Aufnahme nach Peter Fechters 1962 misslungener Flucht über die Berliner Mauer und das Foto der Flaggenhissung 2001 auf Ground Zero von Thomas E. Franklin.

Er diskutiert die Frage, "wie die materiellen Bilder aus der Vergangenheit die mentalen Bilder von der Vergangenheit beeinflussen oder gar generieren." Bevor die Interpretation der kanonischen Aufnahmen beginnt, stellt Hamann sein Analyseinstrumentarium vor: Das Foto als geschichtswissenschaftliche Quelle lässt sich nicht interpretieren ohne die Bildinterpreten selbst zu berücksichtigen. Nach dieser Klarstellung setzt sich der Autor mit den Ursachen der Kanonisierung auseinander - der semantischen und rezeptionsästhetischen Dimension der Fotos - und geht auf Fragen der Bildhermeneutik sowie Ikonografie/Ikonologie ein. Die Bilder werden nach der Komposition und Perspektive geprüft und diskutiert, was sie zeigen und was sie ausblenden. Einzugehen ist nach Möglichkeit natürlich auf den Fotografen, was nicht in jedem Fall möglich war. Zu den Schlüsselbildern werden im Anhang weitere Abbildungen präsentiert, die sich auf die analysierten Bildikonen beziehen.

Als Beispiel sei auf Hamanns Betrachtungen zu der Aufnahme von Stanislaw Mucha hingewiesen: Diese zeigt das Lagertor des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau im Februar/März 1945 nach der Befreiung der Todesfabrik. Die Kraft dieses Schlüsselbildes entsteht durch die Abbildung des Lagertores aus der Richtung von innen auf die Torausfahrt: Durch diese Perspektive bleibt die Gewalt des massenhaften Mordens unsichtbar und die Bilder der Ermordeten dem Betrachter erspart. Bei der Untersuchung der Rezeption dieses Bildes zeigt sich eine sehr bemerkenswerte Umkehrung: Das Foto wird in umgekehrter Perspektive als Sicht auf das Lagertor von außen benutzt. "Die Zentralperspektive der Mucha-Aufnahme verleitet den Betrachter also zu falschen Annahmen über seine Sehperspektive." Die spezifische Perspektive auf das Lagertor lädt dazu ein, imaginär das Konzentrationslager zu betreten - Hamann nennt das den "Sog der Zentralperspektive". So bedient diese Fotografie eine Rezeptionshaltung, die den Massenmord zur Kenntnis nimmt, ihn aber exterritorialisieren und von der Öffentlichkeit ausschließen kann. Die im Anhang wiedergegebenen rezipierten Abbildungen untermauern Hamanns Interpretation eindrücklich.

Durch seine exemplarischen Analysen kann Hamann herausarbeiten, "dass ikonische Faktoren wie Komposition, die Perspektive, der Kontrast sowie Bildtraditionen Sinnbildungsleistungen der kollektiven Rezipienten anregen, wenn nicht gar präformieren." Es konnte aufgezeigt werden, wie Bilder eine politische Wirkungsmacht entfalten und wie Politik mit Bildern möglich wird.

Hamanns Interpretationen sind schlüssig und nachvollziehbar. Mit seinen beispielhaften kritischen Kontextualisierungen werden die Fotografien als Quellen und als Bilder ernst genommen und die Frage beantwortet, "warum welche Fotografien zum visuellen Stellvertreter für kollektive Sinnbildungen über Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart der Rezeption werden können." Er stellt aber auch heraus, dass die Fotografien keineswegs Deutungen determinieren, sie bieten lediglich eine Möglichkeit der Rezeption an. Ausdrücklich weißt Hamann darauf hin, dass seine Interpretationen nicht die einzig Möglichen sind. Schließlich begegnet ein Bild dem Betrachter in je spezifischen konkret-sinnlichen, persönlich-biografischen, allgemein-historischen und gesellschaftlichen Kontexten, in einer bestimmten Gegenwart und an einem bestimmten Ort der Veröffentlichung. Nicht zu vergessen sind die bewussten und unbewussten Faktoren, mit denen man dem Bild begegnet - etwa persönliche Wertmaßstäbe.

Hamann ist es gelungen, die wichtige Frage aufzuwerfen, wie Bilder der Vergangenheit das politische Bewusstsein von Individuen - oder Gruppen - in der Gegenwart beeinflussen oder politische Entscheidungen herbeiführen können. In Bezug auf die von ihm interpretierten Schlüsselbilder gibt er überzeugende Antworten und belegt, dass die Bilder nicht nur Quellen der Vergangenheit, sondern zugleich Interpretationen der vergangenen Gegenwart sind.

Die Studie enthält zahlreiche didaktische Hinweise - nicht nur für den Schulunterricht - und eine umfangreiche Literaturliste, die fast als Bibliografie bezeichnet werden kann. Es ist zu wünschen, dass ähnliche kritische Bildinterpretationen auch von anderen kanonisierten Bildern vorgenommen werden. Wer zukünftig Aussagen zu den Funktionen von Schlüsselbildern als Medien des kulturellen Gedächtnisses machen will, wird um das wichtige Buch von Christoph Hamann nicht herumkommen.


Titelbild

Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung.
Centaurus Verlag, Herbolzheim 2007.
259 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783825506872

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