Ein aktueller Klassiker

Der "Verlag der Weltreligionen" gibt Émile Durkheims "Elementare Formen des religiösen Lebens" neu heraus

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Émile Durkheim gilt als einer der Begründer der Soziologie als Wissenschaft. Er beschäftigte sich in seinen soziologischen Studien mit den Bedingungen des Zusammenlebens innerhalb der Gesellschaft. In Folge dessen rückte die Religion in den Mittelpunkt seiner Arbeit, weil er erkannte, dass sie im gesellschaftlichen Leben eine zentrale Rolle spielt. Ziel seiner religionssoziologischen Forschungen war es, die elementaren Formen von Religion herauszuarbeiten und ihre Funktion zu beschreiben. Der epochale Text "Les formes élémentaires de la vie religieuse: le système totémique en Australie" erschien 1968 im französischen Original und 1981 erstmals in deutscher Übersetzung.

Nun wird dieser Klassiker der Religionssoziologie im "Verlag der Weltreligionen" neu aufgelegt, ergänzt um ein Nachwort von Bryan S. Turner, der das Werk einzuordnen versucht. Leider geht er in seiner Darstellung kaum auf die Rezeptionsgeschichte ein (auf große Interpreten wie den Philosophen Charles Taylor und den Soziologen Talcott Parsons wird nur kurz hingewiesen, auf Niklas Luhmanns Kritik an Durkheim gar nicht), und beschränkt sich statt dessen darauf, etwas zum Entstehungskontext des Durkheim-Werkes und zum Lebenswerk des Soziologie-Pioniers auszuführen.

Auch aktuelle Bezüge hätten weiter und tiefer behandelt werden können, als Turner dies tut - nämlich mit dem bloßen Verweis auf den Problemkatalog der Gegenwart ("Terrorismus, religiöser Nationalismus, ethnische Konflikte") und der Erwähnung des Faktums, Durkheim habe "als Theoretiker der Religion einen bedeutenden Beitrag zur Analyse der modernen Gesellschaft" geleistet. Diese Bemerkung verlangt nach Ausführungen, die jedoch unterbleiben. So ist das Nachwort leider wenig erhellend, zumal es mit zehn Seiten auch sehr kurz ausfällt.

Für seine religionssoziologische Untersuchung wählt Durkheim insbesondere die "primitiven Religionen" des Totemismus in Australien als "Untersuchungsobjekte". Durkheim geht von einer kontinuierlichen Entwicklung der menschlichen Kultur und Religion aus. Er möchte aus diesen frühesten Formen von Religiosität die elementaren Bausteine der Religion extrahieren, die sowohl in primitiven (dort in Reinform) als auch in allen entwickelten Formen von Religion (dort allerdings kulturell überlagert) zu finden seien.

Im ersten Teil nimmt Durkheim grundlegende Untersuchungen zur Religion vor. Er stellt fest, dass man religiöse Phänomene in zwei Kategorien einteilen kann: Glaubensvorstellungen (Ansichten, Überzeugungen) und Handlungsweisen (Riten). Riten beziehen sich auf Ziele, die man in den Glaubensvorstellungen entwickelt. Der Glaube liegt dem Ritus also im Rücken und muss daher zunächst definiert werden. Die Glaubensüberzeugungen beziehen sich auf das Heilige in Abgrenzung zum Profanen der Welt. Menschliches Leben lässt sich unterdessen in zwei elementare Kategorien einteilen: Denken und Handeln. Der Mensch trifft in diesen Formen des Ausdrucks eine klare Unterscheidung von profan und heilig. Denken und Handeln ist also in Beidem vorhanden - Durkheim billigt auch den Glaubensvorstellungen und dem religiösen Ritus Rationalität zu, als Manifestationen heiligen Denkens und Handelns.

Durkheims Religionsbegriff als System von Glaubensvorstellungen und Riten würde aber auch auf die Magie zutreffen. Das Merkmal zur Unterscheidung von Religion und Magie ist für Durkheim die Institutionalisierung in Form der Kirche. Durkheim definiert Kirche als "eine Gesellschaft, deren Mitglieder vereint sind, weil sie sich die heilige Welt und ihre Beziehungen mit der profanen Welt auf die gleiche Weise vorstellen und diese Vorstellungen in gleiche Praktiken übersetzen". Er stellt fest, dass jede Religion in diesem Sinne eine Kirche bildet, während die Magie keine die Menschen verbindenden Tendenzen hat: "Der Magier hat eine Kundschaft und keine Kirche, und seine Kunden brauchen untereinander auch keine Beziehungen zu haben." Analog kann diese Unterscheidung wohl auch auf die Abgrenzung von Religionen und Formen von Religiosität in unserer Gesellschaft angewendet werden. Damit kommt Durkheim zu folgender Definition von Religion: "Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören."

Im zweiten Teil analysiert Durkheim die elementaren Glaubensvorstellungen. Er sieht zwei Funktionen von Religion: Die Verkörperung der Gesellschaft und die Genese von Kategorien zur Erkenntnis. Das überrascht, gilt Religion heute doch eher als Gegenpol zur (säkularisierten) Gesellschaft und Hemmnis für die Weiterentwicklung von Erkenntnis durch eine Wissenschaft, die sich von der Kirche moralisch gegängelt fühlt. Durkheims Argumentation für den Aspekt der Funktionalität der Religion in sozialen Systemen ist die folgende: Einflüsse der Gesellschaft bringen den Menschen dazu, entgegen seiner natürlichen Neigungen zu handeln. Der Mensch spürt zugleich, dass es außerhalb seines Selbst moralisch wirksame Kräfte gibt, von denen er abhängt. Von diesem moralischen Bewusstsein versucht der Mensch sich mit Hilfe von religiösen Symbolen einen Begriff zu machen. Hauptziel der Religion ist es nach Durkheim also, ein religiöses Begriffssystem zu erzeugen, mit dessen Hilfe sich die Menschen die Gesellschaft vorstellen können.

Durkheim sieht religiöse Begriffe mithin als "Ergebnis sozialer Ursachen". Ein Klan braucht einen Namen und ein Wappen. Auf dieses "Totem", das jedem Individuum überall gegenwärtig ist, werden Gefühle übertragen, die die Gesellschaft in ihren Mitgliedern erweckt. Ein gemeinsames Totem ist nach Durkheim für jede Gesellschaft wichtig, denn: "Ein Kollektivgefühl kann man sich nur bewusst werden, wenn es an ein materielles Objekt heftet." Das Kollektivbewusstsein spielt indes eine entscheidende Rolle für die Gesellschaft. Und die Religion sorgt dafür, dass es sich ausbilden kann. Religion und Gesellschaft werden dabei als aufeinander verweisende Quellen heteronomer Moralität in eine enge Beziehung gebracht. Gott ist für Durkheim aber nicht nur ein autoritärer Gesetzgeber, der gesellschaftliche Normen begründen hilft, weil Gottes Gebote in der Religion durch die Institution Kirche materialisiert und damit sozial verwertbar wurden, sondern Gott ist für Durkheim "eine Kraft, auf die sich unsere Kraft stützt". Das bedeutet: "Der Mensch, der seinem Gott gehorcht und aus diesem Grund glaubt, ihn auf seiner Seite zu haben, steht der Welt mit Zuversicht und mit dem Gefühl einer erhöhten Energie gegenüber." Gott liefert mehr als gesellschaftlich aufgegriffenes und in Recht umgesetztes moralisches Material, da die Wirkung der Glaubensvorstellungen tiefer reicht und damit auf die Ursächlichkeit des handelnden Menschen verweist. Letztlich ist aber auch diese Metaphysik menschlicher Entfaltungsmöglichkeit eine instrumentell-funktionalistische Sicht auf Gott, Glauben und Religion. Festzuhalten bleibt: Die Funktion religiöser Glaubensvorstellungen in und für die Gesellschaft ist für Durkheim so bedeutsam, dass er ihr eine konstitutive Rolle zuweist, nicht nur für archaische Totemgemeinschaften, sondern auch für moderne Gesellschaften.

Bestärkt werden Glaubensvorstellungen in religiösen Handlungen. Riten und Kultpraktiken sollen die Verbindung zwischen den Gläubigen und Gott stärken, indem die Glaubensvorstellungen regelmäßig voreinander bezeugt werden. Dies sei der Sinn "periodisch einberufener Versammlungen" - ein Mechanismus, der wohl für Parteitage und Aufsichtsratssitzungen ebenso gilt wie für Gottesdienste. Entscheidend für den Ritus der Religion ist jedoch: Durch die Praxis religiöser Bezeugung wird zugleich die Verbindung des Individuums mit der Gesellschaft gestärkt. Die Religion bindet das Individuum im Ergebnis des rituellen Vollzugs sakraler Handlungen stärker an die Gesellschaft, eine erstaunliche Funktion, deren Mechanismus auch in Zeiten der Säkularisierung intakt zu sein scheint. Im dritten Buch stellt Durkheim schließlich die wichtigsten Ritualhandlungen dar: asketische Riten, Opferkulte, Darstellungs- und Gedenkriten, Sühneriten - Formen der Gottesbezeugung, wie sie sich auch in den Sakramenten der Kirche wiederfinden lassen.

Durkheims Analyse ist hochaktuell, weil ihre Ergebnisse wichtig und ihre Kenntnis zur differenzierten Betrachtung von Religion und der "neuen" Religiosität sowie für ein Verständnis der Religionen in ihrer Kirchlichkeit und ihrem Ritus nötig sind. Gerade die gesellschaftliche Funktionalität dieser Einrichtungen wird in manch oberflächlicher Religionskritik, die sich aufklärerisch wähnt, unterschlagen. Nur mit dem Hinweis auf Zerstörungswut und Machtanspruch, nur mit der Nennung von Dschihad und Sharia, von Kreuzzügen und Inquisition wird man dem Phänomen Religion jedenfalls nicht gerecht.

Trotz der eingangs erwähnten Schwächen bei seinem Nachwort ist dem Fazit Turners zuzustimmen: "Die Lektüre von Durkheims klassischer Religionsstudie bietet so weiterhin einen Einblick in die anhaltenden Spannungen zwischen nationalistisch gefärbtem Aufleben der Religion und der individuellen Subjektivität in modernen Kulturen und vermag die soziologische Theoriebildung immer wieder neu zu beleben."


Titelbild

Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens.
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007.
694 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783458720027

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