Ikonen der Erkenntnis

Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp über Galileo Galileis Zeichenkünste

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Galileo Galilei ist zweifelsohne eine der Ikonen der naturwissenschaftlichen und damit der modernen Erkenntnis. Der Vorrang der Wahrnehmung, das heißt der Sachen und der Natur, vor der begrifflichen Fassung, auf den Galilei stets verweist, beendet, wie es scheint, einen alten philosophischen Streit (der allerdings in anderem Gewande spätestens mit Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche wiederkehren würde), nämlich den zwischen "Nominalismus" und "Realismus".

Dass sich hinter diesen auf den ersten Blick eingängigen und sich selbst erklärenden Vokabeln das genaue Gegenteil verbirgt, was wir dahinter zu erkennen glauben, wird deutlich, wenn der "Begriff" selbst hinzugesetzt wird. Es handelt sich nämlich um den Streit darum, ob die Begriffe den Dingen vorausgehen (also die eigentliche ideelle Realität bilden) oder ihnen nachfolgen (also nur den Begriff einer Sache bilden, das Nomen). Der aber scheint seit Galilei entschieden (und Horst Bredekamp, der sich in dieser Studie zugleich intensiv und sympathisch ausufernd mit den visuellen Aspekten im Werk Galileis widmet, belegt dies gar mit einer klaren Stellungnahme Galileis, aus dessen Schrift zu den Sonnenflecken aus dem Jahr 1611).

Allerdings bleibt das Verhältnis von Begriff und Sache weiterhin offen, wie sich nicht zuletzt Semiotikern erschließt, die aus dem Saussur'schen dualem Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichneten gar ein Dreieck von Begriff, Bedeutung und Referenz (oder Sache) gemacht haben. Das Verhältnis der drei Punkte zueinander wird nicht einfacher, wenn wir noch die erkenntnistheoretischen Muster der Systemtheorie oder der theoretischen Physik hinzuziehen, denen ja beiden - und das aus unterschiedlichen Gründen - die Realität abhanden kommt.

Das aber sind Debatten, denen Galilei fern stand. Für ihn war es wichtig, den Vorrang der Kirche einerseits bestehen zu lassen, ihre Herrschaft aber über die Naturerkenntnis brechen zu wollen (und das in ihrem Sinne). Galilei hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Erkenntnis aus dem engen aristotelisch-ptolemäischen Rahmen zu befreien. Das hat, und hier setzt Horst Bredekamp an, das Verhältnis von Anschauung zu Begriff stets in Richtung Begriff verschoben. Nicht das Wechselverhältnis, sondern die begriffliche Reflexion in ihrer Unsinnlichkeit wird zur erkenntnisleitenden Instanz. Bredekamp will diesen Satz, der auf Kant zurückgeht, jedoch in beide Richtungen interpretieren und nachweisen, dass auch Galilei - wie Thomas Hobbes und Gottfried Wilhelm Leibniz, denen Bredekamp vorhergehende Untersuchungen gewidmet hat - "im Bild" einen "fundamentalen Beitrag für die gestaltende Reflexion der Welt" gesehen habe. In der "Rekonstruktion von Galileis zeichnerischer Intelligenz" liegt denn auch der "Kern" von Bredekamps Untersuchung.

Soll heißen: Wenn Galilei sich der Beobachtung des Mondes und der Sonne widmet, dann sind die von ihm mit gelieferten Zeichnungen nicht nur schmückendes und erläuterndes Beiwerk, sie sind essentieller Bestandteil seiner Beobachtung. Die Beschreibung funktioniert nicht ohne das Bild, allerdings auch nicht das Bild ohne die Beschreibung.

Wer nun aber eine intensive Diskussion der epistemologischen Funktion von Galileis eigenhändigem Bildmaterial erwartet, wird von Bredekamps Studie wohl enttäuscht sein. Bredekamp konzentriert sich stattdessen auf Galileis Verbindungen zur Malerei, seine maltechnische Ausbildung und die besonderen Fertigkeiten, die er bei den Stichen, Zeichnungen und Tuschen zeigte, mit denen er den "Sidereus Nuncius" und seine Sonnenflecken-Beobachtungen fertigte. Dabei macht Bredekamp nebenbei plausibel, dass die Stiche des "Sidereus Nuncius" aus dem Jahr 1610 - dem Buch, für dessen Text und Produktion Galilei lediglich zwei Monate benötigte - vom Autor selbst stammten, ebenso wie die Zeichnungen des Exemplars "Sidereus Nuncius ML", das Bredekamp zur näheren Untersuchung vorlag. Das offensichtliche Engagement des Kupferstechers, die Intelligenz wie Fertigkeit der zeichnerischen Lösung wie die auf den ersten Blick eher unscheinbaren, aber für einen professionellen Stecher ungewöhnlichen Fehler verweisen seines Erachtens auf Galilei selbst. Hinzu kommen umfassende stilkritische Untersuchungen, die sich auf maltechnische Lösungen beziehen und wiederkehrende Muster erkennen lassen.

Wie groß die Bedeutung der bildnerischen Darstellung für Galilei war, zeigt sich auch darin, so Bredekamp, dass Galilei keine Neuauflage des "Sidereus" betrieb, als ihm ein eklatanter Beobachtungsfehler auffiel, der prägenden Charakter hatte. In dem Dilemma, entweder den "Sidereus" untergehen zu lassen oder einen Beobachtungsfehler eingestehen und korrigieren zu müssen, entschied sich Galilei anscheinend für die unauffälligste Lösung.

Das wiederum ist im Zusammenhang mit seinen Strategien zu sehen, sich auf dem neuen Feld der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu behaupten, und das an prominenter Position. Bredekamps Rekonstruktion der Debatten um den Charakter der Sonnenflecken, die die durch das Teleskop armierten Wissenschaftler zu beschreiben und zu erklären versuchten, belegt dies. In der direkten Konkurrenz mit dem am Ingolstädter Jesuitenkolleg lehrenden Christoph Scheiner, der seine Beobachtungen nicht nur schilderte und erläuterte, sondern auch visualisierte, behauptete Galilei das eigene Primat mit dem vielleicht fadenscheinigen Argument, dass nicht die Beobachtung allein dafür ausreiche. Immerhin seien Sonnenflecken schon zuvor beschrieben worden. Ihre plausible und mit den Naturgesetzen konsistente Erklärung sei dafür notwendige Bedingung. Um dieses Primat durchzusetzen, und wohl auch um die Erkenntnistiefe weiter voranzutreiben initiierte Galilei ein europaweites Netzwerk von Astronomen, in denen auffallender Weise bildenden Künstlern eine prominente Rolle zufiel. Anscheinend, so Bredekamp, sah Galilei eher in den Malern seine Unterstützer als in den der aristotelischen Autorität verhafteten Naturwissenschaftlern. Konnte er doch bei ihnen nicht nur eine bessere Aufzeichnungs- und Verzeichnungstechnik erwarten als bei den eher ungeschickten Naturwissenschaftlern (Galilei unterschied sich selbst von ihnen durch seine besonders große Geschicklichkeit, die er nicht zuletzt bei seinen eigenen Zeichnungen wie bei der Konstruktion von Teleskopen an den Tag legte, für die er sogar eine eigene Produktion aufbaute). Er konnte zudem von ihnen die für ihn primäre Fähigkeit zur vorbehaltlosen Anschauung erwarten. Nur wer bereit war, seine Wahrnehmungsmuster, die von den Autoritäten geprägt waren, aufzugeben, konnte den Erkenntnisprozess weiter voran bringen. Das Bewusstsein, gerade im Werk, in dem er die Beobachtung und Erklärung der Mondoberfläche entscheidend vorangetrieben hatte, einer Selbsttäuschung unterlegen zu sein, wird zu seiner Entscheidung beigetragen haben, den "Sidereus" nicht wieder zu publizieren.

Zudem konnte Galilei von der Malerei, der er in seinem kunsttheoretischen Traktat von 1612 den Vorrang vor den anderen bildenden Künsten eingeräumt hatte, und damit auch von seiner eigenen Vorbildung Erkenntnismöglichkeiten erwarten, die seine weniger profilierten Konkurrenten nicht besaßen: Die Erkenntnis, dass die Mondoberfläche nicht glatt war, wie man bis dahin geglaubt hatte, sondern rau, das heißt von Gebirgen und Tälern zerklüftet, verdankte Galilei der Entwicklung der Perspektive und mit ihr der angemessenen Darstellung des Schattenwurfs in der Malerei. Dass der zu- und abnehmende Mond das Sonnenlicht reflektierte, schloss Galilei über sein Wissen vom Phänomen des Schattenwurfs und seiner Darstellung. Ein klassischer Analogieschluss also, der allerdings dem aristotelischen Weltbild einen weiteren Stoß gab. Nur ein Maler (und sei er auch Dilettant gewesen) konnte die Phänomene auf der Mondoberfläche als Schatten verstehen, die vom seitlich auf den Mond und seine Krater einstrahlenden Sonnenlicht hervorgebracht wurden.

Das sei, so Bredekamp, Galilei sehr bewusst gewesen und habe sein Selbstbewusstsein geprägt. Die "Verbindung des optischen Instruments mit seinem geschulten Auge und Finesse seiner Hand" habe ihm den "Triumph" ermöglicht, "als erster Mensch seit Adam den Himmel gesehen zu haben, wie er war". Dabei spielt die visuelle Umsetzung keine nachrangige Rolle, war doch nur hier der Mond in seiner Gänze wahrzunehmen. Das Teleskop selbst ließ nur, so Bredekamp, jeweils die Wahrnehmung etwa eines Viertels seiner Oberfläche zu. Erst in der Zeichnung habe Galilei das Objekt seiner Begierde insgesamt wahrnehmen können. Insofern ist der Rang des Bildes in der Tat nicht als zu gering anzusehen.


Titelbild

Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Die Zeichnung, der Mond, die Sonne.
Akademie Verlag, Berlin 2007.
517 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783050043197

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