Ein bitteres Feld

Angela Krauß schreibt über das "Wunder im Chemiedreieck"

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während das Liebespaar auf einer Wiese in der Sommersonne liegt, hat die Kesselwärterin der benachbarten Anlage 4 Bitterfeld nur noch wenige Sekunden Zeit, denn die Anlage droht zu explodieren. Einer ihrer ersten Gedanken: "Arbeitslos wär dir das nicht passiert."

Die junge Frau auf der Decke, der das nicht passiert, ist arbeitslos. Sie verbringt ihre Zeit mit Warten auf dem Amt und mit Nachdenken über ihre Kindheit in Bitterfeld: "Der Schlammteich 4 auf dem Abwassergelände unter dem Kühlturm war zugefroren." Und Schlittschuhlaufen war die Freude aller Kinder. Sie selbst liebte die Kunst des Eiskunstlaufens und trainierte fleißig die Bögen und Schleifen, denn "jede Schönheit muß man hier dem Dasein entreißen; ich hatte es verstanden, kaum, daß ich geboren war."

Angela Krauß hat ein schlichtes und schönes Buch über ein häßliches Thema geschrieben. Seine Schönheit liegt zum einen in der hohen sprachlichen Ästhetik, den Details, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild verdichten, zum anderen in den Bögen und Schleifen, der Perspektive: Sie wechselt vom Ausblick der Käfer im Gras zur Kesselwärterin und zum Liebespaar auf der Wiese. Dabei aber verliert Krauß nicht den Faden, sondern webt eine zusammenhängende Erzählung.

Auch die zeitliche Perspektive auf Bitterfeld wechselt: Das Gestern existiert in der Erinnerung der arbeitslosen Frau, die Zukunft zeigt sich in den wenigen Sekunden, die der Kesselwärterin bis zur Katastrophe bleiben. Das Bitterfeld von heute ist die fast schon parodistische Beschreibung einer Sightseeing-Tour. Die Touristen reisen auf einem Schiff an, sie kommen über den Schlammteich, der den Kindern früher zum Eislaufen diente. Gebucht haben sie das "Wunder im Chemiedreieck. Das mitteldeutsche Naturwunder. Sogar: Das Weltwunder im 3. Jahrtausend nach Christus". Und tatsächlich hat hier eine Wiederauferstehung stattgefunden: Die Natur, unter Hügeln von Azofarbstoffen, Chlorbenzolen und Lindan- Abfällen fast erstickt und mit Tonnen Quecksilber, Cadmium, Phenol und Salz verseucht, hat sich wieder belebt. Die Schiffsreisenden nehmen die junge Arbeitslose an Bord. Als sie am Ende beschließt, neu anzufangen, hat die Kesselwärterin noch eine Sekunde...

Titelbild

Angela Krauß: Sommer auf dem Eis.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
104 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 351840993X

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