Vaterländer, Slums und andere Domizile

Der Sammelband "Territorial Terrors" theoretisiert koloniale und postkoloniale Herrschaftsräume in der englischsprachigen Literatur neu

Von Kirsten SandrockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Sandrock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Empire schreibt schon lange zurück. Seit Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin ihr bahnbrechendes Werk "The Empire Writes Back" (1989) veröffentlichten, sind die alten Gefüge zwischen Zentrum und Peripherie in der englischsprachigen Literatur wahrnehmbar aufgebrochen. Sogar der prestigereiche Booker Prize - seit 2002 offiziell The Man Booker Prize for Fiction - wird mittlerweile fast häufiger an Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit nicht-britischem Hintergrund verliehen als an anglophone VertreterInnen des Faches. Und das natürlich ganz zu Recht.

Doch trotz der zunehmenden Aufhebung hierarchischer Strukturen wird die postkoloniale Literatur Großbritanniens noch immer weithin über rein nationalpolitische Grenzen definiert. Autoren und Autorinnen mit indischem, nigerianischem oder karibischem Hintergrund werden weithin den so genannten invader colonies zugeordnet, während SchriftstellerInnen aus Kanada, Australien oder Neuseeland gerne unter der Kategorie der settler colonies subsumiert werden. Zwar ist es mittlerweile gang und gäbe, auch regionale, kulturelle, sozioökonomische und psychologische Zonen in die Analyse postkolonialer Werke einzubeziehen. Doch fehlen auch weiterhin ein breiteres Verständnis sowie ein theoretisches Modell dafür, wie sich die Literatur ehemaliger Kolonialstaaten über nationalpolitische Lesarten hinaus in humangeografischen Termini verstehen lässt.

Dabei spiegelt bereits die anhaltende Begriffsdebatte die Notwendigkeit einer derartigen Neudenkung nationalpolitischer Modelle wider. Die Bezeichnung Postcolonial Literature - mit anglistischer Vorliebe für Abkürzungen auch gerne PoCo Lit genannt - wird heutzutage ähnlich für die Herstellung des kolonialen Hierarchiebezugs kritisiert wie der ursprüngliche Terminus Commonwealth Literature, wenngleich beide Begriffe noch immer ungleich häufiger in Feuilletons und universitären Curricula zu finden sind als die politisch korrekte Bezeichnung New Literatures in English, die seit geraumer Zeit in (deutschen) Forschungskreisen bevorzugt wird.

Einen vielschichtigen Vorstoß in die humangeografische Analyse und Konzeptualisierung von postkolonialen Literaturen bietet nun der von Gerhard Stilz herausgegebene Sammelband "Territorial Terrors: Contested Spaces in Colonial and Postcolonial Writing". Zwar werden auch hierin die untersuchten Werke hinsichtlich ihres Commonwealth-Bezugs ausgesucht, jedoch anschließend höchstens schemenhaft auf nationalpolitische Paradigmen hin gelesen. Stattdessen werden Texte der invader colonies (etwa von Monica Ali, Patrick Chamoiseau, Shashi Deshpande, Christopher Hope, Jhumpa Lahiri, V.S. Naipaul, Caryl Phillips, Salman Rushdie oder Zadie Smith) gleichsam wie Werke aus den settler colonies (so von Margaret Atwood, Colum McCann, Mudrooroo alias Colin Johnson, Michael Ondaatje oder Timothy John Winton) sowie aus den USA und Großbritannien selbst (zum Beispiel John Berger, Arthur Conan Doyle, Don DeLillo oder Melvin Tolson) auf eine Vielzahl von persönlichen, ideologischen und emotionalen Eroberungsmechanismen hin untersucht.

Die verschiedenen Typen von umkämpften Stätten sind dabei nicht nach nationalen, sondern vielmehr nach alternativen Räumlichkeitskonzepten sortiert, wie die Aufteilung der Artikel in folgende fünf Bereiche zeigt: 1. Precarious Homes; 2. National Territories, Colonial Terrors; 3. Submerged in the Metropolis; 4. Metropolitan Spaces Appropriated und 5. The Global and the Local. Zwar ist die Zuordnung der einzelnen Artikel zu diesen fünf Sektionen nicht immer schlüssig und eine alternative Anordnung im Anhang wäre durchaus sinnvoll. Doch letztendlich zeichnen sich die Untersuchungen dadurch aus, dass sie alternative Theorien für die "Verortung der Kultur" (Homi Bhabha) sowie der Verortung des Individuums vorstellen und in ein umfassendes Verständnis von ideologischen und psychologischen Besatzungszonen über nationale Grenzen hinaus münden.

Bereits in seiner Einführung betont Stilz, dass die Artikel keineswegs nur politische Territorien fokussieren. Stattdessen verfolgen die siebzehn Aufsätze der deutschen und US-amerikanischen (Nachwuchs-)WissenschaftlerInnen der Universitäten Tübingen und Maryland konsequent die von Stilz betonte Neudenkung und Infragestellung bisheriger Herrschaftsverhältnisse und Räumlichkeitstheorien: "They [the authors, K.S.] were guided or antagonized by recent theories of space and place, they weighed and utilized recent conceptual developments in cultural theory and postcolonial discourse, and they were encouraged to envisage various types of contested spaces in their studies."

Dank Stilz bleibt dieser Akzent auf die Neuartigkeit der Ansätze fortan nicht als hole Phrase im Raum stehen. Der Herausgeber stellt in seiner umfassenden Einführung bestehende Konzepte der Raum-Zeit Matrix von Aristoteles bis Euclid, Immanuel Kant und Albert Einstein, Henri Lefebvre und David Harvey bis hin zu Benedict Anderson und Homi Bhabha vor und setzt somit die darauffolgenden Untersuchungen in den größeren Kontext kolonialer und postkolonialer Räumlichkeitstheorien.

Ausgangspunkt bleibt dabei stets die Manifestation von "Territorial Terrors" in der Literatur, wobei der Titel weitaus mehr als ein cleveres Wortspiel darstellt. Vielmehr dient er als Leitmotiv für die Textanalysen, in denen die gesamte Welt der Imagination in der ein oder anderen Weise von Angst und Gewalt durchsetzt zu sein scheint, so dass die Begriffe Terror (von lat. terrere = ängstigen, bedrohen) und Territorium (von lat. terra = Land, Erde) trotz ihrer unterschiedlichen etymologischen Wurzeln untrennbar zusammengehören.

Karen Rehberger zum Beispiel verwischt in ihrem Aufsatz "Under the Magnifying Class: Sherlock Holmes Investigating the ,Other'" gekonnt die Konturen zwischen kolonialen und postkolonialen Erfahrungshorizonten. Ihr Ansatz ist überaus innovativ, zeigt er doch im Gegensatz zu der bisherigen Forschungsliteratur auf, wie bereits das angeblich so anglophile London in Doyles Romanen ein "breeding ground for crime" war, "where people as well as objects which used to be separate from each other by geographical distance, are now joined together."

Ähnlich innovativ tritt Michael Rosenberg gängigen Interpretationen von Großstadtarchitekturen sowie den damit verbundenen (kolonialen) Denkmustern entgegen. In seinem Artikel "Aestheticizing Slum Cities: Patrick Chamoiseau's ,Texaco' and the Representation of Marginalized Space" legt Rosenberg dar, wie Chamoiseau die Slums von Fort-de-France auf der karibischen Insel Martinique neu ästhetisiert und in humanistischen Termini kartografiert: "the slum aesthetic seeks to balance the beautiful with the ugly, the pleasing with the disturbing, and, perhaps most importantly, the dignified with the pitiable. This balance is crucial to the presentation of the slums as slums [...] as places filled with fully human people and legitimate ways of life which cannot and should not simply be blotted out by more affluent and ,legitimate' conceptions of the city." Es ist diese Art von Ansatz, welche die in den Artikeln untersuchten Gebiete von einem rein nationalpolitischen Charakter befreit und ihnen die Komplexität reeller menschlicher Lebensräume verleiht.

Von besonderem Interesse sind diejenigen Artikel in "Territorial Terrors", die über die untersuchten Werke hinaus einen Blick auf interdisziplinäre Konzepte von physischen und psychischen Territorialherrschaften öffnen. Dies ist zum Beispiel in Ellen Dengel-Janics Aufsatz "Contesting Private Space in Shashi Deshpande's Novels" der Fall, in dem sich die Autorin auf Mikhail Bakhtins Theorien der Dialogischen und des Chronotops bezieht und diese zu einem gender-kritischen Ansatz ausweitet. So gelingt es Dengel-Janic, die traditionellen Rollenmuster indischer Frauen in den Werken von Deshpande zu beschreiben, ohne gleichzeitig ein essentialistisches Bild weiblicher Erfahrungsräume zu zeichnen: "there is no single vision of the family and home as a gendered space. The reader is [...] forced to readjust to the different modes producing the narrative through a multiplicity of voices. A single and simplistic interpretation of the texts is thwarted, and, along with it, a simplifying view of the family and home space is undermined." Auch in anderen Artikeln etablieren sich diverse Bakhtin'sche Konzepte als geeignete Ausgangspunkte für ein komplexes, auf physischen und psychologischen Dimensionen beruhendes Verständnis räumlicher Repräsentation. Neben der Dialogizität und des Chronotops werden in den Artikeln von Lars Eckstein, Kelly McGovern und Kathy-Ann Tan etwa die Konzepte der kulturellen Hybridität, der Heteroglossität sowie der Polyphonie angesprochen und bezeugen die von Kathy-Ann Tan getätigte Schlussfolgerung: "Within these multiethnic, dialogic and hybrid physical spaces, cultural and ethnic identities interact with one another in a constant flux, re-negotiating and re-working the basic tenets of identity, culture and politics."

Somit werden letztlich auch die in "Territorial Terrors" enthaltenen Aufsätze nicht als rein ästhetikorientierte Studien verstanden. Vielmehr wird das Erfassen und Konzeptualisieren von Kunst und Literatur als veritable Form des öffentlichen Handelns präsentiert, wie es auf der Rückseite des Einbandes zu lessen ist: "literature (and film) can take the role of a passionate but non-violent public and educational forum through which we may possibly understand and come to terms with contested spaces and their burning questions before they kindle new forms of terror".

Selbst wenn dies kein Versprechen, sondern eher eine kollektiv formulierte Hoffnung der WissenschaftlerInnen ist, so gibt der Satz Anlass zum Weiterdenken, Weiterforschen und vor allem zum Weiterlesen - und das ist weitaus mehr als manch' anderer Sammelband heutzutage von sich behaupten kann.


Titelbild

Gerhard Stilz: Territorial Terrors. Contested Spaces in Colonial and Postcolonial Writing.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2007.
332 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826037696

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch