Spiele und Filme

Bemerkungen zu einem von Rainer von Leschke und Jochen Venus herausgegebenen Sammelband über das post-postmoderne Kino

Von Hans J. WulffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans J. Wulff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gebe massive Veränderungen der Erzählweisen und der damit verbundenen Rezeptionsmodi und -praktiken, die durch die Praxis des (Computer-)Spielens verursacht sei und ihre formalen Prinzipien dort entlehne - so die These des vorliegenden Bandes. Die Einheit des Spannungsbogens sowie die semantische Dichte des Werks würden sich daher auflösen oder verschieben. Die Dominanz des Narrativen trete zurück, statt der dramatischen Zentralkategorie des Konflikts würden inzwischen die Formate des Rätsels oder allgemeinerer Spielformen als textuelle Makrostrukturen verwendet, die in eine permanente Formeninnovation des Films auch deshalb einwanderten, weil sie inzwischen allgemein verfügbar seien. Die rezeptiven Herausforderungen verlangten ein eigenes neues "Prozessmanagement", gegenüber der traditionellen Rezeptionsform von Filmen. Das alles fände auf makrostruktureller Ebene statt, die filmischen Realisierungen blieben dagegen konventionell.

Zugegebenermaßen eine verlockende These, die durch 15 Artikel zu unterschiedlichsten Themen gestützt wird. Die Beispiele, die sich aufdrängen, sind aus den letzten beiden Dekaden - ein vermeintliches Indiz dafür, dass diejenige Altersgruppe, die vorherrschend ins Kino geht, spiel-sozialisiert ist und das Formen-Repertoire der Computerspiele beherrscht. Man denkt unwillkürlich an die Geeks und Nerds, Jugendliche, die mit schwach ausgeprägter Sozialkompetenz vor Computern hocken, Comics lesen und in Rollenspielen "Star Wars" und andere eher schlichte Fantasy-Stoffe nachstellen. Inzwischen sind sie selbst zu produktiven Kräften des Filmgeschäfts geworden. Sie schreiben und entwerfen Designs für Science-Fiction-, Animations-, Horror- und Fantasyfilme; Regisseure wie Peter Jackson, Tim Burton, Sam Raimi und Robert Rodriguez gehörten einmal zur Geek-Szene.

Doch sind diese Indikatoren stark genug, um auf eine Veränderung der Erzählformen des Kinos zu schließen? Immerhin ist das Spielen eine der urmenschlichsten Tätigkeiten. Und Konstruktionsformen wie "Taking Turns, Restarts, Time Outs, Konditionierte Zufälle" gehören durchaus zum Spiel allgemein, nicht unbedingt zum Computerspiel. Narrationsdominierte Geschichten seien einer strikten Zeitordnung unterworfen, so die These, die Ereignisse müßten kausal (und sowohl psychologisch wie motivational) miteinander verbunden werden; erst dann könnten die klassischen Spannungsdramaturgien eingesetzt werden. Derartige Geschichten verlören aber an Bedeutung, an ihre Stelle trete ein neuer Typus, in dem das Attraktionelle (im Sinne Tom Gunnings) neue Relevanz erhalte. Ja, auch das ist richtig. Doch es sollte nicht vergessen werden, dass das Spektakuläre, das Sensationelle, das überaus aufwendig Inszenierte in der Geschichte des Kinos immer auch und gerade in der Hochphase des Hollywood-Narrationskinos höchste Bedeutung gehabt haben. Auch die Überlegung, die Spiele-Orientierung verursache eine neue Episodalität des Erzählens, ist schwer haltbar: Gerade in der klassischen Narration sind so fundamentale Globalmotive wie die Reise oder die Flucht episodisch gegliedert; zahlreiche biografische Muster wie das Verfolgen von Projekten werden als Handlungsversuche entfaltet, Biografien selbst sind oft anekdotisch angelegt. Spiele-basiert ist aber keine dieser narrativen Strukturen.

Darum stellt sich ein gewisses Unwohlsein über die These ein. Immer hat es neben den narrations- auch beziehungsdominierte Geschichten gegeben. Für diese hat es die Rigidität der narrativen Struktur und der Eindeutigkeit der Verknüpfungen nie gegeben. Schon ein Blick in die Geschichte der Liebeskomödie kann zeigen, dass es Wechsel der protagonalen Initiativität, Neustarts, Pausen von der eigentlichen Geschichte und dergleichen mehr in Hülle und Fülle gegeben hat. Hängt dies damit zusammen, dass menschliche Beziehungen selbst nach dem Prinzip des Spiels funktionieren? Die Screwball Comedy etwa funktioniert nach dem Muster des Zug-Wechsels - erst handelt der eine, dann der andere, gelegentlich treten Pausen ein, bevor die Partie wieder aufgenommen wird (und das ist kein Neustart, sondern eine Fortsetzung der vorhergehenden Beziehungsepisode!). Manchmal intervenieren höhere Kräfte, dann müssen sich die Protagonisten beide darauf einstellen (also kooperativ handeln) und so weiter. Diese Strukturen, die zudem noch durch Slapstick-Einlagen, Lieder oder kuriose Episoden mit Nebenfiguren unterbrochen werden, bilden ein eigenes Genreformat aus, ohne dass sie Strukturen eines anderen Tätigkeitsfeldes von Rezipienten adaptierten.

Kein Zweifel, dass es eine Bezugnahme des neueren Films auf die Bild- und Handlungswelten der (Computer-)Spiele gibt, bedingt allein schon durch die Tatsache der multimedialen Mehrfachverwertung von Stoffen und Spielen. Filme kokettieren ganz gerne mit derartigen Bezügen (von direkten Bezugnahmen wie "Lara Croft: Tomb Raider", 2001, über spielerisch-ironische Nutzungen des Restart-Prinzips wie in "A Chinese Odyssey", 1994, bis hin zu den Verfolgungsjagden einer Farceur-Spielfigur wie in "The Bourne Identity", 2002). Man denkt an Filme, die den Durchlauf durch ihre eigne Geschichte mehrfach probieren (wie die Partien eines Spiels) und die an die Restarts der Computerspiele erinnern ("Lola rennt", 1998) - doch wie neu ist das Prinzip und wie sehr verdankt es sich dem Spiel? Ist es nicht lesbar als Extremform der Reflexivität des Erzählens (und darin "Rashômon", 1950, oder auch Max Frischs Theater-Stück "Biographie: Ein Spiel", 1967/1970, verwandter als den Spielen)?

Die Herausgeber interpretieren manche neuere Filme in einer morphologischen Genealogie. Ein ganz anderes Ergebnis könnte auf veränderten Rezeptionsmodalitäten und -gewohnheiten beruhen, die mit kürzeren Spannungsbögen, mit der Erwartung eines Wechsels der semiotischen Modalitäten und der kommunikativen Register, mit der psychologischen Flachheit respektive der Figurenhaftigkeit der Protagonisten sowie der Durchbrechung der Regeln einer Dramaturgie rechnet, die der Stringenz und Dichte der Erzählung verpflichtet ist. Das wäre dann allerdings eine rezeptive Haltung, die einer postmodernen (und nicht einer post-postmodernen) Rezeption zuzuschlagen wäre, für die das Gemachte eines Films ebenso durchsichtig wäre wie die Geplantheit der Rezeptionseffekte.

Über die Qualität der Beiträge des Bandes ist damit nichts gesagt, denn diese bieten zum Teil außerordentlich interessante Einzelanalysen. Lesenswert ist der Band allemal - gerade weil er eine These anbietet, die sich anzuzweifeln lohnt.


Titelbild

Rainer Leschke / Jochen Venus (Hg.): Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
422 Seiten, 33,80 EUR.
ISBN-13: 9783899426670

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