Die Schule der Flaneure

Christiane Zauner-Schneider über die "Stadtsemiotiker" Victor Auburtin und Franz Hessel

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Spazierengehen eine Kunst ist, weiß man in Deutschland spätestens seit den Prosatexten von Franz Hessel (1880-1941). Hessels Paris- und Berlinfeuilletons wie auch die des lange Zeit vergessenen Victor Auburtin (1870-1928) haben aber über ihre genauen und teils süffisanten Beobachtungen hinaus noch weitaus mehr zu bieten - wie die Forschung der vergangenen Jahrzehnte herausgearbeitet hat. Die Studien zur Selbst- und Fremdwahrnehmung oder zur Positionierung der Autoren und ihrer Texte - zu denen etwa auch Walter Benjamins "Einbahnstraße" zu zählen ist - zeigen das im verkehrs- und medientechnischen Modernediskurs. Christiane Zauner-Schneider schließt mit ihrer Studie über die deutsch-französischen Wahrnehmungen der beiden Vertreter der "Kleinen Form" daran an und führt die Sondierungsbemühungen über diese genuine Form des 20. Jahrhunderts fort.

Die Autorin eröffnet ihre Studie mit einer ausführlichen Einleitung, in der sie in einem ersten Schritt Aspekte und Funktionsweisen des deutsch-französischen Kulturtransfers - insbesondere anhand der Bildenden Kunst und der Literatur - im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorstellt. Deutsche Parisenthusiasten prägten das Bild der französischen Hauptstadt ebenso wie sie das Großstadtbild insgesamt mitgestalteten. Dabei spielten die die Wahrnehmung prägenden Vorstellungen des anderen Ortes eine ebenso große Rolle wie das, was die Parisreisenden selbst dort vorfanden. Das Flanieren, das die Autorin in einem zweiten Teil historisch verortet, nimmt dabei eine herausragende Rolle ein, ebenso wie dessen Zielpunkt - das Feuilleton - der gleichzeitig mit der neuen Wahrnehmungsweise und ihrem Träger im späten 19. Jahrhundert entsteht.

Dabei lautet die zentrale These, dass der Flaneur die Probefigur des urbanen Intellektuellen darstelle, für den die Großstadt grundsätzlich das Medium bedeute, um sich über Modernisierungsschübe und Zivilisationsschäden oder -chancen zu verständigen. Im Falle von Auburtin und Hessel bietet das deutsch-französische Thema als Nationalcharakter-Diskurs überdies noch eine zusätzliche Plattform, um - nicht nur künstlerische - Positionen zu sondieren.

So fungieren Paris und Berlin als divergente kulturelle und politische, letztlich auch weltanschauliche Modelle, wobei der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt in der Wahrnehmung und Darstellung der beiden Städte markiert. Bis 1914 nahmen die deutschen Intellektuellen die französische Hauptstadt als "Schule des Sehens" beziehungsweise als Chiffre für neue Wahrnehmungsformen und Lebensstile in Anspruch, die sie der Enge des wilhelminischen Kaiserreichs vorzogen. Das änderte sich nach dem Krieg. Nach 1918 rückte die deutsche Metropole an die Stelle von Paris und stand für anderthalb Jahrzehnte für das Neue und Moderne. Mit diesem Ruf zog Berlin zahlreiche Künstler aus aller Welt in seinen Bann.

Die Texte der beiden Flaneure Auburtin und Hessel werden in diesem Zusammenhang als konstruktive und produktive Bestandteile der in den 1910er- und 1920er-Jahren bestehenden Diskurse über die Nationalcharaktere, die neuen Medien und die Verhältnisse in der Kunst überhaupt gelesen, da sie trotz aller Zurückhaltung in der Beurteilung der politischen, kulturellen und technischen Entwicklung eine affirmative Haltung ihrer Verfasser zur urbanen Lebenswelt bezeugen. Damit widersprechen die beiden allerdings demjenigen Teil des Flaneurbilds in der deutschen Literatur(-wissenschaft), das die Großstadt als Katastrophengebiet ausleuchtet und primär mit negativen Attributen besetzt. Zauner-Schneider schließt mit ihrer These eher an jene Position an, die den Flaneur nicht als Totengräber und Archivar, sondern als Chronisten und Begleiter der Moderne versteht.

So stellt sie fest, dass etwa Auburtin trotz eines pathetischen Kulturpessimismus den in der urbanen Lebenswelt sichtbaren Modernisierungsphänomenen bewusst mit einer Aufmerksamkeit, Neugierde und Offenheit begegnet, die in seinen späteren Feuilletons zumeist in eine moderate und durchaus differenzierte Zivilisationskritik münden. Bei Hessel beobachtet sie eine beinahe kindliche Freude am Spazierengehen und Beobachten, dir nur spielerisch mit der Schreibabsicht verbunden wird. Dabei handle es sich um ein Komplementaritätsmodell von zielgerichteter Bewegung und Abschweifung, das die Technik des Flanierens und die des Schreibens gleichermaßen erfasse und den Flaneur daher zwischen der Teilhabe und einer observierenden Außenseiterposition oszillieren lasse.

So wird - kurz gefasst - die Stadt zum Buch, die Flanerie zur Straßenlektüre, das Feuilleton zum Medium des Semiotikers, dessen Blick die Zeichen der gesellschaftlichen Situation am Schauplatz Stadt freilich immer wieder anders versteht und vermittelt. Die urbane Lebenswelt wird als Seelenlandschaft erfahren, die je nach Stimmung, Wahrnehmungsweise und Absicht mal von einem genießenden Spaziergänger und mal von einem rasenden Reporter beschrieben wird. Damit wird die Balance zwischen Lob und Kritik der Großstadt bewundernswert gehalten.


Titelbild

Christiane Zauner-Schneider: Die Kunst zu balancieren. Berlin - Paris. Victor Auburtins und Franz Hessels deutsch-französische Wahrnehmungen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006.
385 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3825351092

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