Umwegrentabilitäten des Leidens

Gerda E. Moser, Friedbert Aspetsberger und andere äußern sich zum Leiden und Genießen in der Gegenwartskunst und -literatur

Von Alexandra CampanaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Campana

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Genießen tut gut." Mit dieser eingängigen Formel eröffnet Gerda E. Moser den zusammen mit Friedbert Aspetsberger herausgegebenen Sammelband "Leiden ... Genießen. Zu Lebensformen und -kulissen in der Gegenwartsliteratur", welcher sich aus ausgewählten Referaten der 44. Literaturtagung des Instituts für Österreichkunde (2004) zusammensetzt. Obwohl besagte Eingangsformel zwar kaum in Frage gestellt werden kann, beinhaltet sie dennoch mindestens zwei Bedenklichkeiten. Moser verweist im Zusammenhang mit dem Genießen nämlich nicht nur auf einen Hedonismus, der jegliches Leiden negiert und Lust daher "auf süchtige Weise" sucht, sondern sie identifiziert auch eine Leidenschaft, welche aus der Not eine Tugend macht: Dem grundsätzlich sinnlosen Leiden werden Umwegrentabilitäten abverlangt und/oder angedichtet. Prinzipiell fragwürdiges Suchtverhalten auf der einen und Sakralisierung des Leidens auf der anderen Seite verdeutlichen einmal mehr, dass Himmel und Hölle doch nicht so weit auseinander liegen, wie gemeinhin angenommen.

Dass auch und gerade Kunst und Literatur, wo es einem allgemeinen Konsens nach "um den Menschen in seiner Menschheit" geht, mit dieser Ambivalenz von Gut und Böse umzugehen haben, verdeutlicht Aspetsberger schon mit der Zweideutigkeit seiner Ausgangsfrage, wo Kunst und Literatur der Gegenwart denn nun aufsitzen sollen. "Aufsitzen" versteht er dabei nämlich einerseits in dem Sinne, wie man beispielsweise auf einen Ochsenkarren aufsitzt, um ihn fortan als Vehikel zur Fortbewegung zu nutzen. Andererseits bedeute "Aufsitzen" aber schlicht auch "stecken bleiben". Anhand des populär gewordenen Slogans "Culture is everywhere", der auf eine Kunst und Literatur verweist, die auf alle möglichen Vehikel aufsitzt, verdeutlicht Aspetsberger denn auch das Verwobensein mit dem anderen Aufsitzen, das sich aus solch einem Kunstverständnis ergebe: "Sie [die Kunst] ist dann ununterscheidbar auch von dem, was sie besser nicht wäre, wenn sie eine sein will." So zweifelt er beispielsweise offenkundig den Kunstwert von Tracey Emins Zelt "Everyone I ever slept with 1963-95" an - ein Zelt, in welches Emin sämtliche Namen der Männer eingestickt hat, mit welchen sie über den besagten Zeitraum Verkehr gehabt hat. Da die Zählung wohlgemerkt mit ihrem Geburtsjahr beginnt, findet sich unter den vielen Namen auch derjenige ihres Schänders: "In der Öffentlichkeit [...] des 'kulturellen' Zeltes im Museum tritt das in der Gesellschaft [...] Versteckte endlich in Erscheinung." Insofern sei es seit langem die Aufgabe der Kunst, den Abfall des Alltags aufzuräumen. Auch Aspetsberger gesteht der Kunst zu, als Freiraum zu fungieren. Als Freiraum, in den sich der stigmatisierte und traumatisierte Mensch nicht erst seit Tracey Emin flüchtet. Wenn Aspetsberger daran anschließend feststellt, dass somit jede Frau, die je missbraucht wurde, "solche Kunst machen [könnte], weil sie missbraucht wurde und wenn sie ein Bett hat", verdeutlicht er damit allerdings auch die "Gefahr" einer Art Kunstinflation, zumal bei weiterer Entwicklung in diese Richtung schlussendlich nicht mehr nur "die Missbrauchten ins Museum" kämen, sondern auch alle Übrigen.

Immer wieder lässt Aspetsbergers Aufsatz eine problematische, unterschwellige Aburteilung vermeintlicher Nichtkunst durchblicken. Zuerst müsste doch geklärt werden, was unter Kunst genau zu verstehen ist, bei wem die entsprechende Definitionsmacht liegt und wann Kunstbegriffe von Geschmacksfragen zu trennen sind. Stattdessen verweist Aspetsberger im Verlauf seiner Ausführungen darauf, dass Kunst eben doch kein Freiraum sei, jedenfalls "nicht für alle Bereiche [...], für die sie als Freiraum in Anspruch genommen wird".

Demgegenüber positiv hervorzuheben ist die Offenheit, die Aspetsberger dem literarischen Umgang mit dem Holocaust entgegenbringt. Unter anderem weist er hier die Degradierung von Binjamin Wilkomirski und Bruno Doesekker entschieden zurück: Es handle sich bei dieser Selbstinszenierung als KZ-Opfer keineswegs um Travestie, sondern vielmehr um eine Imitatio Sacrificii, die auf die Wichtigkeit hinweise, welche dem Holocaust als "Fluchtraum der Moral" zu Recht noch immer zugeschrieben werde. Und ein "Vertrauensvertrag" zwischen Autor und Leser über das wirkliche Erlebthaben des Geschriebenen sei ohnehin nicht haltbar. Im Hinblick auf die Schrecken des Holocausts täte man somit besser daran, "eine Fülle aus den Füllen der Vermittlungsprozesse zuzulassen, ohne sie in die festen Grenzen zu pressen, die einem 'richtig' scheinen". Es stellt sich freilich die Frage, ob diese Offenheit nicht doch auch für andere Bereiche der künstlerischen Verarbeitung von Leiden gelten sollte.

Leiden kann nicht nur als Antrieb für die Errichtung von kontroversen Zelten rentabel gemacht, sondern auch als schöpferischer Antrieb zum Inszenieren von literarischem Wahnsinn genutzt werden. Mit dieser Art der Umwegrentabilität setzt sich Bettina Rabelhofer auseinander, wenn sie Franzobels "Phettberg. Eine Hermes-Tragödie" (1999) identifiziert als großen "Monolog des Scheiterns", bei dem die künstlerische Kreativität "auf dem Humus auserlesener Pathologie" gedeihe. Das kulturelle Objekt 'Hermes Phettberg' beschäftigt sich bei Franzobel vor dem Hintergrund einer apokalyptischen Untergangsstimmung unter anderem mit sich selbst, was auch heißt: Mit Fresssucht, Ungenügen und devianten Ausbrüchen. Rabelhofer macht klar, dass im Kontext von Talkshows und Internetauftritten das Leben des kulturellen Hermes Phettberg immer schon ein weitgehend auf Unterhaltungswert gebrachtes gewesen sei und Reales zuweilen dazu geneigt habe, sich nicht eindeutig von Fiktivem unterscheiden zu lassen. Nicht anders verhalte es sich mit Franzobels Text, wobei die Autorin anmerkt, dass die "literarische Umpointierung Franzobelscher Prägung" nicht immer als solche wahrgenommen worden sei. Infolgedessen betont sie entschieden, was diesen Text im Innersten zusammenhalte: "Exzentrik, [...] poetischer Schalk und das Kalkuliert-Psychotische." Damit verwandelt sich das Leid auf produktionstechnischer Ebene zum literarischen Kalkül.

Dem seelisch-psychotischen Wahnsinn stellt Alice Bolterauer ein anderes Leiden gegenüber, nämlich ein körperliches. In George Taboris "Goldberg-Variationen" (Uraufführung 1991) weist sie damit gleichzeitig auf einen äußerst interessanten Entwurf für eine lebensnahe Theaterästhetik hin. Denn auch Tabori war mit der Krise der 1960er-Jahre konfrontiert und folglich mit dem Vorwurf ans Theater, zu lebensfremd und abstrakt zu sein. Diesem Vorwurf entziehe sich Tabori gemäß Bolterauer, indem er ein "Programm einer Authentizität auf der Bühne" entwerfe, ohne dabei die Rollenhaftigkeit des Theaters zu negieren. Im Zentrum stünden für ihn der Schauspieler als Mensch, der in den Rollen immer auch sich selbst zu "spielen" habe und eine "Betonung der Körperlichkeit". Die Schauspieler, welche im Stück Szenen aus der Bibel von der Erschaffung der Welt bis zur Kreuzigung Christi proben, kippen immer wieder aus den gespielten Rollen in die Realität. Dies wird zum Beispiel offensichtlich, wenn der Schauspieler Masch in der Rolle des Isaak blutet und der Regisseur in die Stille hineinfragt: "Herr Masch, haben Sie sich weh getan?"

Nach Tabori käme im Theater - der für ihn lebensnahsten Kunst - keine Botschaft durch, wenn sie nicht unter die Haut ginge: Sowohl der Schauspieler als auch der Zuschauer müsse das Stück körperlich erfahren. Es ginge darum, die Grenzen des Seins zu erfahren "und zu zeigen, wie an diesen Grenzen agiert werden könnte". Ausgelöst werde dieses Experiment stets durch Gewalt, womit sich die Aristotelische Katharsis-Idee in einer "Schocktherapie des Publikums" manifestiere. Zugleich reihe sich Tabori mit der Wiederentdeckung und damit Aufwertung der Körperlichkeit problemlos in die ästhetischen Diskurse der Postmoderne ein. Das (körperliche, durch Gewalt ausgelöste) Leiden präsentiert sich bei Tabori damit als Grundlage einer sich am postmodernen Diskurs beteiligenden Theaterästhetik.

Nachdem die Idee von der bürgerlichen Gesellschaft nach Georg Wilhelm-Friedrich Hegel obsolet geworden sei, wie Doris Priesching in ihrem Aufsatz zu den TV-Formaten des Persönlichkeitskults konstatiert, ginge es im gegenwärtigen Zeitalter der Individualisierung in erster Linie um das Selbst. Eine Ausgangslage, die zur Authentizität zwinge. Auch Kathrin Röggla setzt sich mit dieser Authentizität auseinander, und zwar insbesondere mit deren Funktionieren im gesellschaftlichen Rahmen, "was mit dem begriff der 'glaubwürdigkeit' sich vielleicht am ehesten bezeichnen lässt". Dabei übersieht sie nicht, dass Glaubwürdigkeit primär ein Effekt ist. Auch wenn man den dafür notwendigen Inszenierungsaufwand selbstverständlich nicht zu sehen bekommen will, weil es mit der Überzeugungskraft dann vorbei wäre.

In ihrem Roman "wir schlafen nicht" (2004) interviewte sie 24 ,Topüberzeuger' der Consulting-Branche und verdeutlicht unter anderem anhand dieses literarischen Beispiels nicht nur, dass Rhetoriken des "leistungsfuror[s] und machbarkeitswahnsinn[s]" tatsächlich affizieren können - in diesem Falle die Autorin beziehungsweise Befragerin selbst -, sondern sie setzt sich auch mit der anderen Dimension der Authentizität auseinander, die sie bezeichnet als eine "sehnsucht nach kruder wirklichkeit", womit es in ihrem Aufsatz nicht primär um ein Leiden als viel eher um einen (vielleicht einem Leiden entspringenden) Bedarf des (post)modernen Menschen geht. Der Irrtum dieser Sehnsucht liege in dem Glauben, dass Realität direkt abbildbar, wo nach Röggla die wirklichkeitsgetreue Abbildung immer ein Ding der Unmöglichkeit sei. So müsse sich auch Literatur, die dem Bedarf an Echtheit beizukommen versuchend mit dokumentarischen Mitteln arbeite, stets des Einflusses des Dokumentarischen selbst bewusst sein. Röggla verweist hier zum Beispiel auf Hubert Fichte, dessen Auseinandersetzung mit dem Inquisitorischen von Interviews und die daraus folgende Feststellung, "dass man jemanden dahin bringt, wo man ihn haben will".

Wo aber, um den Bogen zurück zu spannen zu Aspetsbergers Ausgangsfrage, sollen Kunst und Literatur denn nun aufsitzen, um erfolgreich fortzukommen? Aspetsbergers Antwort hierauf ist so unspektakulär wie unvermeidbar, schließlich zeigt schon allein die Vielfalt der künstlerisch-literarischen Nutzbarmachungen der Leiden der Gegenwart, dass eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage eben doch nicht zu finden ist. Und dass man um einen (wenn auch impliziten) Verweis auf die grundsätzliche Freiraumhaftigkeit der Kunst/Literatur eben doch nicht herumkommen kann. Deshalb: "Das bleibt offen."

Es kann hier nicht auf alle Beiträge des Bandes eingegangen werden. Aber auch schon der kursorische Streifzug macht deutlich, worin dessen Wert zu sehen ist: In der Pluralität von Zugangsweisen auf ein Thema, das sich wohl so lange nicht erschöpfen wird, wie es Gegenwartskunst/-literatur und Meinungsvielfalt gibt. Freilich stolpert man bei der Lektüre der einzelnen Beiträge immer wieder auf bereits hinreichend Abgehandeltes und stellenweise wird die wissenschaftliche Tiefe vermisst. Doch auch wenn einige Behauptungen ein fast schon körperliches Leiden verursachen, so rufen sie im Umkehrschluss auch ein dringendes Bedürfnis nach intensiver Diskussion hervor und tragen damit wieder zur Lebendighaltung eines äußerst zentralen Gegenwartsdiskurses bei. Selbstverständlich darf auch das Vorhandensein von zahlreich eingestreuten Highlights nicht übergangen werden, welche den Band an vielen Stellen zu einem Genuss machen und damit die Konstruktion einer Umwegrentabilität zwecks Lektüreempfehlung unnötig werden lassen.


Titelbild

Friedbert Aspetsberger / Gerda E. Moser (Hg.): Leiden......Genießen. Zu Lebensformen und -kulissen in der Gegenwartsliteratur.
Studien Verlag, Innsbruck 2006.
352 Seiten, 37,90 EUR.
ISBN-10: 370654167X

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