Nichts wirklich wissen

Bernward Dörner scheitert an der Frage, was die deutsche Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg über die Ermordung der europäischen Juden wusste

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Schriftsteller Paul Valéry, einer der großen Verächter der Geschichte, brachte seine Polemik gegen diese Wissenschaft in den Jahren 1915/16 einmal in folgendem Aperçu zum Ausdruck: "Nichts wirklich wissen: ein Merkmal des Historikers".

Nach der Lektüre von Bernward Dörners Habilitationsschrift ahnt man, was Valéry mit dieser Bemerkung gemeint haben könnte. Dörner will untersuchen, in "welchem Maß der deutschen Bevölkerung die Ermordung der europäischen Juden vor 1945 bekannt wurde und wie sie diese Informationen aufnahm". Zu diesem Zweck hat er eine Unmenge von Quellen herangezogen, in erster Linie Verwaltungsakten, NS-Lageberichte, Zeitungsartikel, Tagebücher und Briefe, viele davon bislang unbekannt oder wenig beachtet. Zudem bringt Dörner eine vollkommen neue Quellengruppe in die Debatte über das Wissen der Bevölkerung um den Judenmord ein: die Ermittlungsakten von Polizei und Justiz aufgrund verbotener Äußerungen, die im NS-Jargon als "Heimtücke" und "Wehrkraftzersetzung" bezeichnet wurden.

Die Relevanz des Themas begründet Dörner wie folgt: "Die Realisierung des Judenmords lässt sich nicht auf technische Vorgänge und das Handeln weniger Krimineller reduzieren. Dem Kenntnisstand und der Haltung der Deutschen muss für die Entwicklung und den Umfang des Genozids Relevanz beigemessen werden, weil beide Faktoren die Umsetzung des Verbrechens beeinflusst haben". Er postuliert also einen integralen Zusammenhang zwischen Judenmord und dem Wissen der Bevölkerung; eine These, die in dieser Schärfe noch kein anderer Historiker vertreten hat. Dörner befasst sich zunächst mit den Hürden, die der Wahrnehmung des Geschehens entgegenstanden: die Tarnsprache der NS-Behörden, deren bewusste Vernichtung von Dokumenten, aber auch die immense geografische Entfernung der Tatorte vom Deutschen Reich und das hohe Tempo der Vernichtung, das zu einer zeitverzögerten Wahrnehmung führte. Zu Recht konstatiert Dörner auch, dass die kognitiven Muster für die Wahrnehmung von Genoziden zu dieser Zeit noch unzureichend entwickelt waren. Für die (männlichen) Direkttäter und deren Umfeld, also in erster Linie für Soldaten und Polizeiverbände, kann er jedoch dezidierte Kenntnisse über das Ausmaß und die Systematik des Mordgeschehens nachweisen. Ähnliches gilt für die Beamten in den Reichszentralbehörden.

Um den Kenntnisstand der deutschen Bevölkerung über die Massenvernichtung herauszuarbeiten, analysiert Dörner dann nur punktuell, wie die Täter ihr Wissen weitergaben, etwa anlässlich von Heimaturlauben, in Feldpostbriefen oder in ihrer privaten Korrespondenz. Stattdessen wechselt er die Perspektive und versucht fast ausschließlich, jene spärlichen Informationen über die Behandlung der Juden zu rekonstruieren, die den zeitgenössischen Medien zu entnehmen waren. Nacheinander klopft er die NS-Tagespresse, den Rundfunk (darunter die Sendungen des deutschsprachigen Dienstes der BBC), illegale Flugblätter von Widerständlern und Flugschriften der Alliierten auf die Frage ab, inwieweit sich daraus möglicherweise Kenntnisse über den Genozid hätten ergeben können. Danach widmet er sich jenen Äußerungen Einzelner zum Judenmord, die als "Heimtücke" gewertet wurden und sich in Polizei- und Justizakten finden. Diese Dokumente erweisen sich jedoch als relativ unergiebig. Mehr als Gerüchte und Einzelaussagen zu isolierten Mordaktionen lassen sich daraus nicht entnehmen. Dörner zieht die auf den ersten Blick vorsichtige Schlussfolgerung, dass im Deutschen Reich spätestens im Spätsommer 1943 "unübersehbare Hinweise auf die systematische Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder" existierten. Zudem konzediert er ein Ost-West- und ein Stadt-Land-Gefälle beim Fluss jener Informationen, die über das Mordgeschehen verfügbar waren. Andere Historiker kommen zu ähnlichen Ergebnissen, sprechen aber dezidiert von einem partikularen Wissen der Bevölkerung, das nur in Ausnahmefällen zu einem Gesamtbild über den Genozid führte.

Derartige Differenzierungen sind jedoch nicht Dörners Sache. Allenthalben verallgemeinert er seine Befunde in problematischer Weise und behauptet ein explizites Wissen der deutschen Bevölkerung über den systematischen Massenmord an den Juden. Der gesamte Text ist voller Pauschalurteile und eindeutiger Fehlinterpretationen. So zitiert Dörner unzählige Dokumente, die Auskunft über das Wissen der Bevölkerung um die Deportationen, nicht aber um das Vernichtungsgeschehen geben. Bisweilen werden partikulare Kenntnisse von einzelnen Erschießungen und Morden zu einem imaginären Gesamtwissen aufgebauscht. So berichtet Dörner von der Äußerung eines Transportarbeiters, dem ein Verwandter von einer Mordaktion erzählte, an der er selbst beteiligt war und bei der er es nicht übers Herz brachte, ein jüdisches Mädchen zu erschießen. Dörner macht aus diesem Einzelfall umstandslos ein Wissen der Bevölkerung darum, dass "auch jüdische Frauen und Kinder systematisch getötet wurden". Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Im Grunde genommen reiht Dörner in der vorliegenden Studie ein Dokument ans andere. Bei einem systematischeren Vorgehen hätte das Buch ohne Substanzverlust um mindestens die Hälfte gekürzt werden können. Die Quellenzitate sind viel zu lang und machen fast ein Viertel des Gesamttextes aus. Zudem besteht das komplette zweite Kapitel von 75 Seiten Länge größtenteils aus Wiederholungen des bereits Gesagten, ohne dass dabei irgendein Erkenntnisgewinn absehbar wäre.

Durch Dörners Studie zieht sich unterschwellig (vor allen Dingen bei seinen Erörterungen zum Wissen um die "Euthanasie"-Morde, die eine Art Subtext der gesamten Untersuchung bilden) die Annahme, eine kollektive Protestaktion hätte das Mordgeschehen verlangsamen, wenn nicht gar stoppen können. Die Hypothese, dass die meisten Deutschen von der Ermordung der Juden wussten, verwandelt sich so subkutan in den Vorwurf einer kollektiven Unterlassung und dann in den einer kollektiven Verantwortung für das Geschehen.

Dies ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Zum einen lag die kollektive Verantwortung für die Ereignisse, die später zum Massenmord führten, zeitlich schon früher - nämlich im Prozess der Ausgrenzung der Juden von 1933 bis 1938/39, den große Teile der Bevölkerung nicht nur billigten, sondern sogar aktiv vorantrieben. Zum anderen stellt Dörner damit die Vernichtungstäter mit den potenziellen Mitwissern auf eine Stufe und verwischt sämtliche Unterschiede, die im Ausmaß der Tatbeteiligung bestanden. Den behaupteten Zusammenhang zwischen dem Vollzug des Massenmordes und der Haltung der Bevölkerung weist Dörner an keiner Stelle nach. So enthält die vorliegende Studie zwar interessante Einsichten in die Kommunikation über den Judenmord im Zweiten Weltkrieg, als geschichtswissenschaftliche Analyse des Wissens der deutschen Bevölkerung um den Holocaust ist sie jedoch gescheitert.


Titelbild

Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte.
Propyläen Verlag, Berlin 2007.
890 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783549073155

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch