Blick in tiefe Abgründe

Zum Tod des belgischen Schriftstellers Hugo Claus

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Als Hugo Claus 2003 mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde, lobte die Jury, dass er "unbarmherzig und mit viel Sinn für das Groteske die Abgründe der modernen Zivilisation schildert." In seiner flämischen Heimat hat er sich allerdings nicht nur Freunde gemacht, obwohl er viele Jahre lang als heißer Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wurde. Vor 40 Jahren wurde er wegen "Verletzung des Schamgefühls in der Öffentlichkeit" zu vier Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte in einem Experimentalfilm die heilige Dreifaltigkeit in Gestalt von drei nackten Männern inszeniert.

Hugo Claus, der am 5. April 1929 in Brügge (also im flämischsprachigen Teil Belgiens) geboren wurde, verließ bereits als 18-jähriger seine Heimat, nachdem ihn seine Eltern zuvor auf ein strenges katholisches Internat geschickt hatten, wo der Unterricht ausschließlich auf Französisch abgehalten wurde. Seine Romane und Essays sind gekennzeichnet durch die unbändige Kraft einer anscheinend unbestechlichen "moralischen Instanz". Er zog gegen die Kirche, gegen Korruption und Spießigkeit, gegen doppelbödige Moral und provinzielle Kulturpolitik schreibend zu Felde.

Claus' Affinität zum weltoffenen Nachbarland entwickelte sich früh. Er begegnete dem Surrealisten Antonin Artaud, schwärmte später für Raymond Queneau und schloss sich 1948 der Künstlervereinigung COBRA um Asger Jorn an. Als literarischer Autodidakt legte er in dieser Zeit seinen ersten Gedichtband vor. Später folgten neben Romanen und Essays noch Theaterstücke, Hörspiele, Drehbücher, Übersetzungen (unter anderem Dylan Thomas und Georg Büchner) und ein Opernlibretto - sogar als Maler feierte Claus respektable Erfolge.

Seine bedeutendsten Romane kreisen alle um den geografisch engen Raum der Provinz Flandern. Das 1983 erschienene opulente Erzählwerk "Der Kummer von Flandern" (gerade bei Klett-Cotta in einer Neuausgabe erschienen), in dem er die Entwicklungsgeschichte der Familie Seynaeve während der Zeit der deutschen Besatzung nachzeichnet, wurde von der Kritik hymnisch gefeiert und mit Günter Grass' "Blechtrommel" verglichen. Ein Stich ins "flämische Herz" war der Roman "Belladonna" 1996 - eine bitterböse literarische Polemik gegen die Vetternwirtschaft in der flämischen Kulturschickeria.

Es scheint eine Art Hassliebe zu sein, die Claus, der abwechselnd in Frankreich und in Antwerpen lebte, mit seiner Heimat verband. Flandern wurde in seinem literarischen Werk oft zum Spiegelbild der Welt. Unter dem Eindruck der Dutroux-Affäre schrieb Claus zwei Romane, in denen Gewalt und psychisch Kranke eine zentrale Rolle spielen - "Das Stillschweigen" 1998 und "Unvollendete Vergangenheit" 2001. Claus dokumentierte einen bedrückenden Kreislauf der Gewalt - ausgelöst durch die Wahnvorstellungen eines "gestörten" Normalbürgers, der auf Gewalt mit Gegengewalt reagiert. Es ist etwas faul im Staate Belgien, so könnte - in klassischer Anlehnung - Hugo Claus' literarisches Leitmotiv lauten.

Am 20. März starb der Autor, einer der bedeutendsten zeitgenössischen europäischen Romanciers, im Alter von 78 Jahren in Antwerpen. Den Zeitpunkt seines Todes hatte er selbst gewählt. Claus litt an Alzheimer und hatte um Sterbehilfe gebeten.