Völkermord als Naturgesetz

Medardus Brehls Studie zur "Vernichtung der Herero" belegt, dass die "Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur" noch lange nicht beendet sind

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch heute kann man die Einschätzung hören, die Kolonialära habe für Deutschland keine nennenswerte historische Bedeutung gehabt. Wenn sich überhaupt noch jemand an die deutschen Kolonien in Südwest- und Ostafrika, in China und der Südsee erinnert, so winkt derjenige meist mit dem Argument ab, diese 'imperialistische Phase' hätte ja 'nur' etwas mehr als 30 Jahre Bestand gehabt, bis im Ersten Weltkrieg ihr Ende besiegelt wurde. Kein Vergleich also mit dem britischen Empire und anderen Konkurrenten um einen "Platz an der Sonne", wie die berüchtigte Wortprägung aus dem Kaiserreich das Ziel kolonialer Expansionen nannte. Kurz: Die 'anderen' waren in jedem Fall viel 'schlimmer'.

Nicht nur im Rahmen der "Postcolonial Studies" hat aber mittlerweile eine immer vernehmlicher werdende wissenschaftliche Erinnerung daran begonnen, was insbesondere Deutsche mit der ihnen eigenen "Gründlichkeit" in einem Zeitraum von drei Jahrzehnten so alles anzurichten vermochten. Dabei wird klar, dass federführende Militärs in den deutschen Kolonien sehr bald nach der Gründung des ersten "Schutzgebietes" im heutigen Namibia (1884) schon einmal tüchtig für jenen exzessiven Massenmord zu üben begannen, der dann im 20. Jahrhundert in wesentlich kürzerer Zeit realisiert wurde und ein östliches Kolonialreich von gigantischen Ausmaßen begründen helfen sollte, das auf der Idee seiner totalen Entvölkerung durch einen Vernichtungskrieg basierte.

Diesen 'Einfall' gab es im deutschen Kaiserreich aber auch schon um 1900. In der ersten deutschen Kolonie "Deutsch Südwest" führte Generalleutnant von Trotha einen entschlossenen Völkermord an den aufständischen Herero durch. Er hatte "sich bereits bei der Niederschlagung des Wahehe-Aufstandes in Deutsch-Ostafrika (1894-1897) und den Kämpfen in China (1900) den Ruf militärischer Unnachgiebigkeit und Brutalität erworben", wie Medardus Brehl in seinem Buch über die "Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur" notiert. Trotha ließ die gesamte Bevölkerung dieses Stammes, 80.000 Männer, Frauen und Kinder, nach der entscheidenden Schlacht am Waterberg (11. August 1904) in ein riesiges Sandfeld treiben. Durch eine planvolle militärischen Abriegelung aller erreichbaren Wasserlöcher durch die deutschen Truppen verdursteten die Opfer qualvoll. 1911 wurden gerade einmal 15.130 überlebende Herero gezählt. Und auch von den in einem Folgekrieg unterjochten Nama wurde etwa die Hälfte getötet.

Brehls Studie widmet sich aber nicht nur der (bereits anderswo hinlänglich geleisteten) historischen Aufarbeitung dieser Ereignisse, sondern versucht darüber hinaus, die seinerzeit offen angestrebte "Vernichtung" einer indigenen Bevölkerung als "Diskursereignis" im Sinne Michel Foucaults zu begreifen. Der Autor setzt sich dabei von der bisherigen (literaturwissenschaftlichen) Forschung ab, die das Thema vor allem ideologiekritisch untersucht und dabei übersehen habe, dass der Völkermord und seine Rechtfertigung keineswegs nur das Ergebnis einer aus heutiger Sicht "falschen" rassistischen Verblendung war, die in 'propagandistischen' Texten aufschien. Vielmehr versucht Brehl anhand einer ausgreifenden Untersuchung des damaligen Leitmediums der (Kolonial-)Literatur zu belegen, dass sich die seinerzeit allseits offen befürwortete Idee einer Auslöschung kolonisierter Völker unter anderem aus philosophischen, hygienischen und evolutionstheoretischen Lehren herleitete, die bis auf Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant zurückgingen und damit als allgemein anschlussfähig begriffen wurden. Es war demnach im Kaiserreich Konsens, dass ein Genozid an den Herero kein fataler Fehler oder gar ein Verbrechen war - sondern dass er vielmehr Sinn ergab und damit den schlichten Regeln der reinen Vernunft klar denkender, fortschrittlicher und moderner Menschen folgte. Selbst die christliche Mission spielte in den Entwicklungen, die zu diesem Völkermord führten, eine unrühmliche Rolle und wurde von ihren Protagonisten als eigene Form des "Expansionismus", ja gar als kultureller "Vernichtungskampf" verstanden, der allerdings nicht Menschen umbringen, sondern ihre "kulturelle Eigenständigkeit" liquidieren wollte, wie Brehl belegt.

Sein Buch fußt auf einer gewissenhaften Lektüre der bisherigen historiografischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema. Einleuchtend arbeitet der Autor in seinem peniblen, über 40 seitigen Referat des Forschungsstands heraus, dass es nicht darum gehen könne, einmal mehr den "Nicht-Sinn" kolonialer Ideologeme und das 'falsche' Bewusstsein ihrer Anhänger mit der heutigen 'Wahrheit' zu konfrontieren. Vielmehr sei es an der Zeit, die explizite kollektive Realitätskonstruktion jener Epoche herauszuarbeiten. Brehl stellt die These auf, dass die "Deutung und literarische Codierung der Kolonialkriege und des kolonialen Genozids einerseits durch Traditionen beziehungsweise Konventionen der Rede über die Kolonien und die Kriegführung, andererseits durch die Struktur der Medien und der Schrift [...] determiniert sind. Das heißt, daß die zeitgenössisch über die Kolonialkriege produzierten Texte Ansichten dieser Kriege projizieren, die nicht die Realität mimetisch abbilden, sondern, vor dem Hintergrund gültigen sozio-kulturellen Wissens und einer konventionalisierten Rede über die Kolonien, eine Wirklichkeit der kolonialkriege konstruktiv erzeugen."

Brehl sichtet zur Verifizierung dieser Theorie unter anderem erfolgreiche zeitgenössische Kolonialkriegslyrik, Kinder- und Jugendbücher, Feldzugsberichte und Kolonialromane verschiedenster Couleur. Und tatsächlich gelingt es dem Autor dabei, ein durch all diese - nicht zuletzt von den Leserzielgruppen her völlig heterogenen Textsorten und Publikationen - frappierend dicht hindurchgewebtes Netz immer wieder gleicher Beteuerungen rassischer Charaktereigenschaften und darauf fußender Schlussfolgerungen aufzudecken, die dann schließlich in Afrika von 1904-1907 zu genozidaler Wirklichkeit wurden.

Verblüffend und zugleich für den Beleg seiner Thesen schlagend ist auch der Umstand, dass der Genozid an den Herero in diesen deutschsprachigen Kolonialtexten bis zum Ersten Weltkrieg - und sogar auch noch in solchen, die danach entstanden sind - mit keinem Wort geleugnet oder kaschiert wird. Vielmehr behaupten nicht nur triviale Erzählungen, sondern gerade auch Schulbücher und selbst akademische Texte jener Zeit die unumgängliche Pflicht und Schuldigkeit der deutschen Kolonialherren, die "Eingeborenen" möglichst komplett zu eliminieren.

Anhand verschiedener untersuchter Publikationen weist der Bochumer Genozidforscher aber auch nach, dass zentrale Topoi kolonialer kollektiver Rede und der xenophoben Konstruktion des "Fremden" im Blick auf die Geschichte von "Deutsch Südwest" mitunter sogar bis heute Bestand haben. Unter anderem verweist Brehl dazu auf eine aus Windhoek stammende 1998er-Neuauflage von dem deutschen Kolonialtext schlechthin, Gustav Frenssens Bestseller "Peter Moors Fahrt nach Südwest" (1906).

Frenssens Roman gibt sich qua Untertitel als ein - tatsächlich auf Grundlage größtenteils mündlicher Recherchen des Autors kompilierter - 'authentischer' "Feldzugsbericht" aus, obwohl Frenssen selbst die Kolonie zeitlebens niemals besucht hatte. Trotz - oder, wie Brehl zeigt - gerade weil Frenssens Text aber den wesentlichen Erzählschablonen derartiger Berichte folgt, die damals in riesigen Auflagen Legion waren, hatte sein Roman einen unglaublichen Erfolg, avancierte unter anderem schnell zur Schullektüre und erfuhr bis in die 1950er-Jahre eine Auflagenhöhe von über 500.000 Exemplaren. Frenssen gab an, er habe den Bericht mit so großer Einfühlung geschrieben, dass er selbst den "Sand zwischen den Zähnen" habe spüren können.

Übrigens behandelt Brehl auch Karl May in seiner Studie - einen tendenziell sogar noch wirkungsmächtigeren Autor als Frenssen, der mindestens ebenso geschickt an virulente koloniale Diskurse und Fremdbilder seiner Zeit anschloss und innerhalb dieser fiktionalen Wirklichkeitskonstruktion insinuierte, er sei in den Ländern, über die er unter anderem anhand von geschickt kompilierten Informationen aus Lexika 'realistisch' zu schreiben versuchte, selbst umhergereist, ohne es tatsächlich vor der Niederschrift der Romane getan zu haben.

Selbst zeitgenössische Historiker konnten so auch Frenssens Roman, der den Genozid an den Herero diskursgemäß als Folge eines unausweichlichen 'Naturgesetzes' beschrieb, als Quelle und 'beglaubigten' Bericht der Ereignisse auffassen. Frenssen beschrieb aus ihrer Sicht nichts weiter als einen historisch 'unausweichlichen' Entscheidungskrieg zwischen der überlegenen, 'frischeren' weißen Rasse und den 'kulturlosen' "Schwarzen" - und das angeblich in größtmöglicher Detailtreue.

Die aus Windhoek stammende Neuauflage von Frenssens Roman nun weist in der Tat ein (von Brehl trotz seiner Beweiskraft nicht einmal zitiertes) Vorwort eines gewissen Dr. K.F.R. Budack auf, das dem Text abermals den "dokumentarischen Wert einer glaubwürdigen Milieuschilderung" bescheinigt und anhand seiner neuerlichen Kenntnisnahme durch geneigte Leser für eine "verständnisvolle" Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kolonialgeneration plädiert. Unter anderem geht Budack davon aus, dass es sich bei dem längst hinlänglich historisch belegten Genozid an den Herero bloß um eine "verbreitete Clichévorstellung von einem Völkermord" handele, die die "allzu früh verstorbene" Leiterin des Namibianischen Nationalarchivs, Brigitte Lau, "widerlegt" habe. So möchte Budack mittels einer emphatischen Relektüre von Frenssens Roman für die Einsicht werben, dass der Krieg der deutschen "Schutztruppe", die er übrigens nicht in Anführungsstriche setzt, "durchaus kein Spaziergang" gewesen sei, "sondern ein lebensgefährliches, strapaziöses Unternehmen, das vielen den Tod brachte". Der Autor schließt sein offenes Plädoyer für eine solche Täter-Opfer-Umkehr mit den Worten: "Im gewissen Sinne sind wir dazu befähigt, weil wir trotz aller zeit- und milieubedingten Unterschiede der Generation unserer Urgroßväter in Mentalität und Denkweise ähnlicher sind, als wir es wahrhaben wollen."

Wer Brehls Buch gelesen hat, glaubt das gern. Belegt der Genozidforscher doch, dass typische rassistische Imaginationen mörderischer Herero, die friedliche deutsche Kolonistenfamilien als herumvagabundierende, zerstreute Volksmasse bedrohten, sogar noch in einem Bestseller-Fantasyroman von 1999 belegbar sind - nämlich in Kai Meyers Buch "Die Göttin der Wüste". Meyers Text schließe offen an ein "zentrales Grundmuster der kolonialen Rede über die Etablierung und Bewahrung kollektiver Identität" an: die innere Festigung eines weißen Kollektivs im gemeinsamen Verteidigungskampf gegen "mordende und brandschatzende Herero-Horden" (Meyer).

Brehls Studie ist damit ein wichtiger Beitrag, an dem sowohl in den "Postcolonial Studies" als auch der deutschen Kolonialhistoriografie so bald niemand mehr vorbeikommen dürfte. Besonders aber auch für die noch in den Kinderschuhen steckende literaturwissenschaftliche Erforschung des 'vergessenen' Werks des Volksschriftstellers Gustav Frenssen ist die Arbeit ein veritabler Meilenstein: Brehl bündelt die bisherigen Erkenntnisse zu Frenssens paradigmatischem Text "Peter Moors Fahrt nach Südwest" und führt sie im Sinne seiner Analyse auf erhellende Weise weiter, um zu zeigen, dass der Roman bis 1945 (und für bestimmte Kreise offenbar weit darüber hinaus) die "gültige Erzählung über den Herero-Krieg" blieb. Mehr kann man von einer mit nur 256 Seiten inklusive Anhang für ihr ehrgeiziges Ziel erstaunlich knapp und stringent geschriebenen Studie wahrlich nicht verlangen.


Titelbild

Medardus Brehl: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2007.
256 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783770544608

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