Subtil und vielschichtig

Isabel Rohner rehabilitiert die Literatin Hedwig Dohm

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hält man das Leben für einen Roman, geht das in aller Regel gründlich schief. Dass es mitunter aber auch fatale Folgen hat, wenn man einen Roman mit dem Leben verwechselt, zeigt Isabel Rohner in ihrer Arbeit zur "Problematik der fiktiven Biografie" am Beispiel biografischer Lesarten der literarischen Werke Hedwig Dohms.

Als Mitherausgeberin der "Edition Hedwig Dohm" ist die Germanistin mit dem ebenso umfangreichen wie vielfältigen Œuvre der scharfzüngigen Feministin wohlvertraut und lässt in ihrer Arbeit die "Komplexität und die thematische und konzeptionelle Verknüpftheit" von Dohms literarischen Werken mit ihren Essays, Feuilletons und Polemiken deutlich werden. Zwar wirft Rohner einen "ganzheitlichen Blick" auf Dohms, "umfassend[es] journalistisch[es] und schriftstellerisch[es]" Werk. Doch konzentriert sie sich weithin auf zwei Texte der Erzählprosa: den Roman "Schicksale einer Seele" (1899) und die Novelle "Werde, die Du bist" (1894), anhand derer sie zeigt, dass der feministisch inspirierten Dohm-Forschung der 1970er- und 1980er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zwar deren Wiederentdeckung und -veröffentlichung zu danken ist. Den damaligen Forscherinnen ist jedoch anzulasten, dass sie ganz darauf fixiert waren, in Dohms literarischen Werken "autobiographische Informationen" aufzuspüren. Rohners Feststellung, dass die Versuche dieser Forscherinnen, in Dohms Texten "Spuren" vom eigenen Leben der Autorin oder aber "wenigstens 'reales' Frauenleben" zu finden, dazu beitrugen, ein gängiges "Vorurteil" zu "zementier[en]", demzufolge Frauen "nur unreflektiert, 'natürlicher' - und damit schlechter - schreiben als männliche Autoren", weshalb ihr "Ausschluss aus dem literarischen Kanon" berechtigt sei, triff zwar zu, blendet aber aus, dass die durch das vermeintlich 'unreflektierte' und 'natürliche' Schreiben von Frauen angeblich garantierte Authentizität von den feministischen Rezipientinnen in den 1970er- Jahren gerade geschätzt und eingefordert wurde. Eine Les- und Unart, die - wie Rohner hervorhebt - bei den Werken von Schriftstellerinnen allerdings überhaupt eine lange Tradition hat und im Falle Dohms schon zu deren Lebzeiten einsetzte.

Rohners fundierte Kritik an derartigen Lesarten und Interpretationen macht deutlich, dass die "Reduktion" auf eventuelle "biographische Aspekte" in den Romane und Novellen "schwerwiegende Folgen" nach sich zog. Zum einen kamen deren künstlerisch-ästhetische Qualitäten gar nicht erst in den Blick. Diese einseitige "Fokussierung" wirkt noch heute nach und führte dazu, dass Dohm als Literatin noch immer unterschätzt wird. Zum anderen wurde auch die Erforschung ihrer Biografie beeinträchtigt, "mischten" die Forscherinnen Dohms Leben und feministischen Aktivitäten doch zunehmend die "vermeintlichen 'Tatsachen'" aus ihren literarischen Werken unter. All dies unterstreicht Rohners Feststellung, dass statt der biografischen Suche vielmehr eine "literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung" mit Dohms Texten Not tut. Doch belässt es Rohner nicht bei der Forderung. Mit ihrer Studie liegt nun endlich eine Untersuchung vor, die der literarischen Qualität von Dohms Romanen und Novellen nachgeht und gerecht wird. Alleine schon dies ist ein großes Verdienst.

Rohners Arbeit besteht im Wesentlichen aus zwei Hauptteilen, deren erster der literarischen Analyse des Romans "Schicksale einer Seele" und der Novelle "Werde, die du bist" gilt, während sie im zweiten Dohms tatsächliches Leben gegen die durch biografisierende Lesarten ihrer Romane eingeführten Irrtümer anhand der allerdings nicht sehr zahlreich überlieferten "verifizierbare[n] Daten" verteidigt.

Diesen beiden Abschnitten vorgeschaltet ist ein kürzeres Kapitel, in dem Rohner begründet, warum sie Dohms fiktionales Werk mit ihrem sonstigen schriftstellerischen Schaffen engführt. Dohms "zentrale Themen und Thesen" prägen sowohl ihre politischen Artikel, Feuilletons und Polemiken wie auch die Novellen, Romane, Dialoge und Theaterstücke. Darum seien in Dohms literarischem Œuvre nicht zuletzt die "Querverweise" auf die anderen Textsorten "gestalterisch, methodisch und inhaltlich produktiv". Zwar werde auch in Dohms fiktionalen Werken deutlich, dass die Autorin dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung angehörte, doch versuche sie ihre Ziele hier anders zu erreichen als in ihren Essays und Polemiken. Während letztere explizit feministische Forderungen erheben, agieren ihre literarischen Werke "sehr viel subtiler und vielschichtiger", wie Rohner vielfach nachweist.

In ihrer Interpretation des Romans "Schicksale einer Seele" weist die Germanistin zudem überzeugend nach, dass und wie Dohm hier "mit dem durch Assoziationen und Werturteile so vorbelasteten Genre weiblicher Autobiografie spielt" und "die immer wieder betonte 'typisch weibliche' Eigenart der Schlichtheit, Einfachheit und Natürlichkeit im Schreiben als Fiktion entlarvt und somit die männlich geprägte Norm des Schreibens unterläuft." So versichert die als Autobiografin und Ich-Erzählerin auftretende Protagonistin Marlen ihrem Freund Arnold zu Beginn des Romans etwa, sie werde ihre Geschichte seinem Wunsch gemäß "[r]echt schlicht und einfach" aufschreiben. Wird "Marlenes Stil, der in seiner Einfachheit und Schlichtheit besonders weiblich sein soll", damit schon auf den ersten Seiten des Romans "als männliches Konstrukt entlarvt", so spielt die "Unterwanderung" dieser "männlichen Norm" im weiteren Roman eine geradezu "zentrale Rolle", wobei Dohm ein Verfahren anwendet, das Rohner zufolge auf die "Dekonstruktion" dieser Norm zielt. Genau darin, den Begriff der Dekonstruktion auf Dohms literarisches Verfahren vom Ende des 19. Jahrhunderts anzuwenden, liegt eine der innovativsten und erhellendsten Thesen des vorliegenden Buches.

Zwar wäre es in der Tat mit einem Fragezeichen zu versehen, wenn man Dohm als "Dekonstruktivistin" apostrophieren wollte, doch geht es Rohner vielmehr darum, "Affinität[en]" zwischen Dohms literarischem und dem späteren dekonstruktiven Verfahren feministisch aufgeklärter LiteraturwissenschaftlerInnen nachzuweisen. Und das gelingt ihr mit Bravour. Dies umso mehr, als sie explizit davor warnt, "[d]as von Dohm verwendete dekonstruktive Verfahren" mit dem "amerikanischen feministischen Dekonstruktivismus" der 1980er-Jahre zu identifizieren, das anders als Dohms Verfahren, "auch ein Werkzeug bereitstellt, das sich in vielfältiger Weise anwenden und zur Textanalyse einsetzen lässt." Eine weitere wesentliche Differenz zwischen Dohms "dekonstruierendem Konzept" und dem "feministischen Dekonstruktivismus" besteht etwa darin, das nur letzterer die "Möglichkeit einer weiblichen Identitätsbildung" in Frage stellt. Dohms literarisches Verfahren trifft sich jedoch mit dem dekonstruktiven feministischer LiteraturwissenschaftlerInnen des ausgehenden 20. Jahrhunderts darin, dass beide die "Konstruiertheit der Protagonistinnen" offen legen. So lasse Dohm die "Fremdbestimmtheit" von "Sprache und Denken" ihrer weiblichen Hauptfiguren "[g]anz im Sinne von Derrida und Barthes" deutlich werden. Gerade indem Marlen und auch die sechzigjährige Witwe Agnes Schmidt in "Werde, die du bist" "versuchen, sich schreibend in Sprache darzustellen, entpuppen sie sich selbst als sprachliche Konstrukte, als elementar konstruiert."

Zu den "zentrale[n] Gestaltungsmomenten" von Dohms dekonstruktivem Verfahren zähle des weiteren das "dichte intertextuelle, bisweilen auch intermediale Netz" mit dem ihre Ich-Erzählerinnen "schreibend Bezug zum traditionellen (männlichen) Kanon und zu darin gestalteten Weiblichkeitsbildern [nehmen], die sie thematisierend unterlaufen, verschieben oder verkehren." Das intertextuelle "Spiel" mit literarischen Figuren, auf die sowohl Marlen wie auch Agnes Schmidt in ihren "Aufzeichnungen" immer wieder "verfremden[d]" Bezug nehmen, ist Rohner zufolge ein "grundlegendes gestalterisches Mittel", mit dem die Schriftstellerin jene literarischen Figuren, die "ein gewisses Idyll von Weiblichkeit darstellen und auch transportieren sollen", in ihren eigenen Werken "verkehrt" und "hinterfragt". Dabei handele es sich um ein Verfahren, das "zugleich das dahinterstehende Konzept in seiner Künstlichkeit, aber auch in seinem Einfluss auf die realen Frauen offengelegt."

Wie Rohner zeigt, lassen auch Dohms Essays und Feuilletons eine dekonstruktive Methode zumindest "erahnen". "[D]ekomponiert" die Autorin in ihnen doch seinerzeit geläufige "Alltagswahrheiten", indem sie sie als "antifeministische Mittel zur Unterdrückung und Beschneidung der weiblichen Entfaltungsmöglichkeiten" kenntlich macht.

Neben dem "dekonstruktivistischen Gestaltungsverfahren" hebt Rohner die "zentrale Bedeutung" des "rhetorischen Mittel[s]" der Ironie in Dohms literarischem Werk hervor, wobei sie sich gelegentlich sogar selbst etwas ironisch zeigt. Etwa wenn sie fragt, ob es nicht schon an Ironie grenze, "dass die ungebildete, vordergründig naive und schlichte Ich-Erzählerin [in "Schicksale einer Seele"] über ein differenzierteres Textverständnis verfügt als manche Kritikerin".

Zwar wurde die Erzählung "Werde, die Du bist" von der meist feministischen Forschung nicht in dem gleichen Maße autobiografisch gelesen wie "Schicksale einer Seele", doch wurde Dohms "literarische[s] Verfahren" auch in diesem Fall von feministischen - wie auch anderen - InterpretInnen "tendenziell außer Acht gelassen". In ihrer Auseinandersetzung mit der Tagebuch-Erzählung, deren "Fokus" auf der "Selbstentdeckung" der Protagonistin Agnes Schmidt liegt, geht Rohner insbesondere der Frage nach, ob die Autorin in ihrer Novelle "tatsächlich ein verhindertes klassisch-humanistisches Identitätsbild schafft", wie der einen Pindar'schen "Sinnspruch" variierende Titel und eine oberflächliche Lektüre nahe legen könnten, "oder ob ihre Konzeption nicht vielmehr bereits Anzeichen eines modernen Identitätsbegriffs zeigt." Es erstaunt wenig, dass Rohner überzeugend für letzteres plädiert. Alleine indem Dohm Pindars Maxime "Werde, der du bist" in seiner "weiblichen Ausformung" verwendet, thematisiere sie den Phallogozentrismus und die "traditionell männlich geprägte Sprache" als "etwas der Frau Fremdes und Aufgezwungenes", das sie "von einem zentralen Bewusstseinsprozess ausschließt". Schon der Titel der Novelle lenke die Aufmerksamkeit auf die "marginalisierte (sprachliche) Existenz der Frau in einer universal männlich bestimmten Gesellschaft."

Des Weiteren beleuchtet Rohner, wie Dohm ihre "äußerst ergiebige Palimpsest-Theorie" in ihrer Novelle versinnbildlicht, und deutlich macht, dass die "weibliche Sprachlosigkeit" in einer "phallogozentrischen Ordnung" gründet, in der die Sprache der Frau "eine ihr auf-geschriebene" ist.

Zur "Ergänzung" ihrer literarischen Analyse wendet sich Rohner im zweiten Hauptabschnitt Dohms Leben zu und korrigiert anhand wiederaufgefundener Briefe und anderem Quellenmaterial auf nicht mal sechzig Seiten zahlreiche der weitläufig "kursierenden Fehler". Auch kann sie so manche Forschungslücke füllen. So nahe wie Rohner auf diesen wenigen Seiten ist dem Leben Dohms bislang noch keine Biografin gekommen.

Die Erwartungen an die Dissertation einer der beiden Herausgeberinnen von Dohms Werken waren zu Recht hoch gespannt, und sie werden keineswegs enttäuscht. Rohners Studie zählt zweifellos zum Besten, was bisher über Dohms Romane und Novellen gesagt und geschrieben wurde. Künftige Dohm-ForscherInnen werden sich bis auf weiteres an ihren Erkenntnissen messen lassen müssen.


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Isabel Rohner: In litteris veritas. Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Biografie.
trafo verlag, Berlin 2008.
321 Seiten, 32,80 EUR.
ISBN-13: 9783896267153

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