Viele Vergangenheiten

Bruno Arich-Gerz untersucht die Kolonialepochen Namibias aus postkolonialer Perspektive

Von Christian RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das seit 1990 unabhängige Namibia unterscheidet sich insofern von zahlreichen ehemaligen Kolonien, als dass es auf zwei Epochen kolonialer Fremdherrschaft zurückblicken muss. Auf die deutsche Kolonialherrschaft, in welcher 1884 zunächst ein Großteil des heutigen namibischen Territoriums zum 'Schutzgebiet' Deutsch-Südwestafrika ausgerufen wurde und in deren Verlauf auch der Deutsche Vernichtungskrieg gegen die Nama und Herero fiel, folgte nach dem zweiten Weltkrieg eine Zeit südafrikanischer Fremdherrschaft, in welcher die Apartheidpolitik Südafrikas auch auf den Südwesten des Kontinents ausgedehnt wurde und sich etwa in der Errichtung der im Odendaalplan fixierten Homelands manifestierte.

Der von Bruno Arich-Gerz jüngst im Bielefelder Aisthesis Verlag vorgelegte Essayband "Namibias Postkolonialismen" greift diese Besonderheit und Vielschichtigkeit der namibischen Geschichte schon im Titel auf und interpretiert - ohne Anspruch auf die 'Abarbeitung' eines umfassenden, repräsentativen Kanons - literarische wie nicht-fiktionale Texte zu beiden Kolonial-Epochen des Landes. Zur ersten Phase zieht Arich-Gerz Texte wie etwa Gustav Frenssens "Peter Moors Fahrt nach Südwest" (1906), Uwe Timms "Morenga" (1978) oder Gerhard Seyfrieds "Herero" (2004) heran, sowie aus dem amerikanischen Sprachraum Thomas Pynchons Romane "V" (1963) und "Die Enden der Parabel" (1973).

Während zu dieser Epoche bereits literaturwissenschaftliche Untersuchungen im deutschen Sprachraum vorliegen, betritt Arich-Gerz mit der Fokussierung der zweiten kolonialen Phase Namibias sowie der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit weitgehend Neuland: Fixpunkte bilden hier etwa Joseph Dieschos "Troubled Waters" (1993), Brian Harlech-Jones' "A Small Space" (1999) oder André Brinks "The Other Side of Silence" (2002).

Sehr erhellend an der Lektüre der fünf in gut lesbarem Stil gehaltenen Essays ist es, dass sich Arich-Gerz nicht darauf beschränkt, lediglich namibiaspezifische Texte vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie zu interpretieren. Auch die mittlerweile kanonischen Theoreme der postcolonial studies von Gayatri C. Spivak, Homi K. Bhabha oder Edward Said werden nicht absolut gesetzt, sondern vor dem Hintergrund des konkreten Falls Namibia einer Re-Lektüre unterzogen. Es entsteht eine doppelte Bewegung der Interpretation, in welcher sich nicht nur die literarischen Texte am Reflexionsstand der postkolonialen Theorie messen lassen müssen, sondern eben auch die Postulate der Theorie an ihrer Übertragbarkeit auf die konkrete historische Situation Namibias überprüft werden.

Sehr überzeugend gelingt die Re-Lektüre postkolonialer Theorie etwa in bezug auf Bhabhas Mimikry-Konzept, welches dieser unter Rückgriff auf das historische Beispiel der britischen Kolonialvergangenheit auf dem indischen Subkontinent entwickelt hat. Arich-Gerz 'importiert' das Konzept nach Namibia und arbeitet heraus, dass Bhabhas bipolares Modell für eine Interpretation der Kolonialvergangenheit Namibias eben aufgrund der zwei Epochen kolonialer Vergangenheit nur bedingt tauglich ist. Es finden sich zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft durchaus Aspekte der Mimikry im Sinne Bhabhas. Diese zeigen sich etwa im verunsichernden Potential, welches die 'Truppenspielerbewegung', in deren Zuge einige Herero Gesten der deutschen Kolonialherren kopierten und Kleider der 'Schutztruppe' trugen, auf die deutschen Kolonialherren entfaltet hat. Die 'Truppenspielerbewegung' bestand jedoch auch nach Ende der deutschen Kolonialherrschaft fort, als sie nach der Beendigung der Macht der ehemaligen Kolonialherren scheinbar funktionslos geworden war, und während des Zweiten Weltkrieges - also zwischen den beiden Kolonialepochen - kommt es zu Mimikry-Konstellationen, in denen drei Parteien (auf britischer Seite am Krieg teilnehmende Südafrikaner, im Land verbliebene deutsche Siedler und indigene Bevölkerungsgruppen) eine Rolle spielen. Eine Konstellation, für welche Arich-Gerz den Begriff der "Mimikry a trois" prägt. Die ehemaligen Kolonialherren erscheinen vor den neuen Machthabern in der Kluft der indigenen Bevölkerung, eine Dreiecksbeziehung, in welcher bei den so 'maskierten' das Wissen um den kolonialen Blick des Gegenübers zum relevanten Faktor wird und für die eigenen Ziele verwendet wird. Anders als bei Bhabha ist Mimikry hier nicht mehr eine (bewusst oder unbewusst) angewendete Strategie des Kolonisierten.

Interessant ist auch die vom Autor vorgenommene Re-Lektüre von Olaf Müllers Nachwende-Roman "Tintenpalast". Bei diesem im deutschen Feuilleton aufgrund seiner nicht-realistischen Romananlage fast ausnahmslos 'verrissenen' Text sieht Arich-Gerz gerade in seinen phantasmagorischen Elementen ein (freilich im Text nur angedeutetes, nicht ausgeschöpftes) Potential zur Erzeugung transhistorischer und transtemporärer Schauplätze, einer Telescopage von Nachwende-Gegenwart und kolonialer Vergangenheit.

Kritisch ist anzumerken, dass in einzelnen Passagen des Bandes eine Klammer um allzu Diskrepantes geschlungen wird. So will etwa die Lektüre von Lucia Engombes "Kind Nr. 95", der Lebensgeschichte eines namibischen Mädchens, das elf Jahre ihrer Kindheit in der DDR verbrachte, vor dem Hintergrund von Bhabhas in Rückgriff auf Sigmund Freud entwickeltem Konzept des Auftretens des (ehemals kolonisierten) Migranten im Land der ehemaligen Kolonisatoren als (Wieder)Einbruch des Unheimlichen, nicht recht einleuchten. Auch wenn der Autor die Nicht-Vereinbarkeit zwischen diesem Text und dem Theorieansatz sehr klar benennt und herausarbeitet und im selben Essay sehr interessante und plausible Überlegungen zu Erfahrungen von individueller wie kollektiver Liminalität liefert, entsteht hier - jedoch nur hier - der Eindruck, dass mit 'Kanonen der Theorie' auf 'Spatzen der Literatur' geschossen wird.

Dieses bezieht sich jedoch lediglich auf einen der fünf Essays und ändert somit wenig daran, dass Arich-Gerz einen anregenden, fundierten, breit gefächerten und eigenständigen Beitrag liefert. Die von ihm als Forschungsdesiderat eingeforderte ausführlichere Aufarbeitung der Postkolonialismen Namibias wäre auf diesem Reflexionsgrad - und vielleicht ja vom gleichen Autor - sicherlich ein Gewinn.


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Bruno Arich-Gerz: Namibias Postkolonialismen. Texte zu Gegenwart und Vergangenheit in Südwestafrika.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
147 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-13: 9783895286599

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