Nicht ohne Beispiel

Jonathan Littells monumentaler NS-Kriegsroman "Die Wohlgesinnten" ist bei der deutschen Kritik durchgefallen - allerdings mit merkwürdigen Begründungen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach 400 Seiten glaubt man, endlich genug gelesen zu haben. Und es geht tatsächlich immer so weiter, im Offizierskasino-Ton. Neben stupiden Befehlsformeln wie "Wegtreten!" und den monotonen Kognak-Runden, die fast auf jeder der 1.385 Seiten wiederholt werden, ist es vor allem das platte Bildungspathos, das an den Nerven zerrt. "Nicht geboren zu sein geht über alles", zitiert der feinsinnige Protagonist Dr. iur. Maximilian Aue seinen Sophokles. Haarsträubende Rassentheorien werden von einem obskuren Dr. Mandelbrod gepredigt, der wie ein typischer Schurke aus einem James-Bond-Film auftritt. Mit seinen verwitterten Fleischmassen sitzt er bewegungslos auf einem fahrbaren Kingsize-Sessel und furzt unablässig. Er ist von lauter Katzen und uniformen blonden "Lebensborn"-Girls umgeben und lenkt die Geschicke des "Dritten Reichs" als Mastermind und geheimer 'Drahtzieher'. "Was gibt es Völkischeres als den Zionismus?", fragt er rhetorisch und meint, die Juden seien die einzige "Rasse", die den deutschen Ariern Konkurrenz machen könne - weswegen sie restlos ausgelöscht werden müssten. Der Ich-Erzähler aber ergrübelt gerne fragwürdige Merksätze wie: "Die, die töten, sind Menschen wie die, die getötet werden, das ist die schreckliche Wahrheit."

Fuge des Grauens

Schließlich ist es, als fiele einem ein tonnenschwerer Stein vom Herzen, wenn man dieses schlimme Buch endlich doch durchgelesen hat. Aber es bleiben einzelne Szenen präsent, die sich wie schwere Alpträume im Bewusstsein eingenistet haben. Da ist etwa die gefühlt 500-seitige Masturbations-, Selbstpenetrierungs- und Fäkalorgie des Ich-Erzählers im leeren ostpreußischen Haus seiner Schwester Una. Man hatte beim Lesen, ohne es zunächst selbst richtig zu bemerken, immer nur den Kopf geschüttelt und gehofft, dass das irgendwann einmal aufhört. Es ist die Sorte ungebeten ausfantasierter Pornografie, die den Leser anspringt, fertig macht und schließlich nur noch anekelt. Wird sie doch nicht zuletzt überblendet mit einzelnen, jäh aufflackernden Mord- und Todesbildern aus der Judenvernichtung, die zuvor bereits über 1.200 Seiten immer wieder detailliert beschrieben worden ist. Es ist ein Snuff-Video aus Wörtern, eine Literatur, die direkt aus der Folterkammer zu stammen scheint.

Vielleicht aber ist es auch so etwas wie eine Generalintrospektion soldatischer "Männerphantasien", wie sie Klaus Theweleit in seiner gleichnamigen, zweibändigen Dissertation Ende der 1970er-Jahre untersucht hat. Littell hat Theweleit gelesen. Und er lässt einfach nicht locker. Als würde es ihm ein heimliches Vergnügen bereiten, seine Leser dabei ordentlich zu quälen und am Schluss noch einmal so richtig 'ranzunehmen, lässt er seinen Protagonisten am Ende des erwähnten Sexual-Horror-Trips notieren: "Ihr denkt jetzt sicherlich: Na, endlich ist diese Geschichte zu Ende. Nicht doch, sie geht noch weiter."

Richtig, das war auf Seite 1.274. Und dann muss man tatsächlich auch schon wieder los, weiter im Text, wie nach dem Aufwachen in einer gruseligen Realität, die noch viel schlimmer ist als das, was einen gerade im Schlaf noch verfolgt und einem den kalten Schweiß auf die Stirn getrieben hatte.

Der Autor bittet zum Tanz

"Gigue" nennt Littell den nun noch folgenden, letzten Satz in seiner kakophonen literarischen Fuge des Grauens. So nennt man eine "Tanzform der Barockmusik in lebhaftem, raschem 12/8-Takt, mitunter auch im 6/8-Takt", weiß die Wikipedia. Ursprünglich war es wohl ein "bäuerlicher Tanz". Littell wird in seinen Interviews nicht müde zu betonen, wie sehr er Johann Sebastian Bach vergöttere, dessen Musik in diesem letzten Kapitel seines Romans auch noch einmal explizit vorkommt. Das, was der Autor hier schildert, klingt aber am Ende nicht mehr wie Bach, sondern schon eher nach György Ligeti.

Es folgt die Zielgerade des Romans, eine unmögliche Flucht zweier SS-Männer und ihres polnischen Fahrers vor der Roten Armee, die gerade dabei ist, gen Berlin vorzustoßen, um dem nationalsozialistischen Spuk ein Ende zu bereiten. 17 Tage sind Aue und sein Freund Thomas meist hinter den feindlichen Linien unterwegs, und schon bald wird ihr Begleiter von fanatisierten deutschen Kindersoldaten umgebracht, die die drei schlafenden Männer zunächst für Deserteure halten. Etwa 70 dieser mörderischen Kids tauchen eines Morgens irgendwo im Wald auf und umringen die Ahnungslosen, es sind Ausgeburten des "Volkssturms", eine Zombiehorde kleiner Killermonster: "Der Junge im Offiziersmantel machte ein Zeichen, und ein halbes Dutzend Kinder stürzte sich auf Piontek, schlugen mit ihren Gerätschaften auf ihn ein und zogen ihn zu Boden. Ein Junge hob eine Hacke und rammte sie ihm in die Wange, das drückte ihm die Zähne ein und katapultierte ihm ein Auge aus dem Kopf. Piontek brüllte vor Schmerzen; ein Knüppelhieb zerschmetterte ihm die Stirn, und er verstummte."

So etwas wollte niemand lesen

Schon bei ihrer Auslieferung war Jonathan Littells 1.385seitige NS-Schwarte "Die Wohlgesinnten" bei der deutschen Kritik durchgefallen. Zwar hatte die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bereits ab 2006 erste wohlwollende Artikel und Interviews über Littell und sein Werk publiziert, dem aus Frankreich ein geradezu epochaler Ruf vorauseilte, und dann Wochen vor dem Erscheinen den "Reading Room" ins Leben gerufen. In diesem zunächst eher betulich vor sich hindümpelnden Online-Diskussionsforum antworteten Philologie-Promis wie der Heidelberger Ernst-Jünger-Biograf Helmuth Kiesel täglich auf bewusst einfach und massenkompatibel gehaltene Fragen zum Buch oder seinem Verhältnis zur realen Geschichte der Shoah.

Doch dann schlugen Iris Radisch und Harald Welzer in der "Zeit" los und zerrissen Littells Roman in der Luft. Darauf folgten weitere beherzte Verrisse in mehreren wichtigen Tageszeitungen, aber Radischs Aufschrei war wohl der schrillste: Littell zeige sich der NS-Rassenideologie ergeben, schreibe schlecht, sei von sexuellen Perversionen gebeutelt und zudem ein "gebildeter Idiot".

So kam es, dass sich Klaus Theweleit zunächst in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" als einer der wenigen Kritiker von Rang für Littells Buch in die Bresche warf. Er polemisierte, Radischs Entgleisungen gegenüber der französischen Literaturkritik, die den Roman im Großen und Ganzen gelobt hatte, grenzten an "journalistischen Rassismus innerhalb der EU". Gegen die geschmäcklerischen Urteile der deutschen Kritiker, die den Stil Littells meist als ergreifenden Kitsch beziehungsweise unterkomplexe Hauptsatz-Erzählweise im "Und dann, und dann, und dann"-Format abkanzelten, bemerkte Theweleit: "Bloß: was hat man erwartet? Dass wir so etwas erzählt bekommen in Thomas Mannscher Distanzschreibe? Literarisch poliert? Das genau wäre ein Verbrechen gewesen. Ich habe Furchtbares erwartet und Furchtbares bekommen; und habe etwa 700 Seiten gebraucht, bis ich kapiert habe: das geht nur so; das geht nur in dieser Art Schreibe".

Es geht aber auch anders

Zwar meinten Radisch & Co., Littell versuche, seine literarische Unfähigkeit mit einem Tabubruch, einer bisher noch nicht dagewesenen "Provokation" zu kaschieren. Doch wenn Kritisieren immer auch Vergleichen heißt, dann wird man auf eine Tatsache hinweisen müssen, an die bisher in der allgemeinen Aufregung nur ganz wenige erinnert haben: Es gibt eine komplexe Shoah-Literaturgeschichte. Und es gibt viele philosophische, theoretische und poetologische Überlegungen dazu, wie man dem Thema ästhetisch gerecht werden könnte. Kurz: Littell hat Vorgänger und Vorbilder.

Wenn die Literaturkritik behauptet, der in New York geborene Franzose, der von Juden abstammt, die bereits im 19. Jahrhundert in die USA auswanderten, habe mit der Entscheidung, die Perspektive eines SS-Massenmörders einzunehmen, eine "rote Linie" überschritten, wie auch der französische Historiker Pierre Nora im "Marginalienband" zum Roman bemerkt - dann ist das Unsinn.

Edgar Hilsenrath erledigte das Thema mit seinem Werk "Der Nazi & der Friseur" bereits in den 1970er-Jahren auf weltliterarischem Niveau - in gewisser Weise sogar radikaler als Littell, da er es wagte, über die Shoah in der Form einer Satire zu schreiben.

Hilsenraths Ich-Erzähler Max Schulz hat vielleicht nicht ganz zufällig den gleichen Vornamen wie der Protagonist Littells: Max Aue ist zudem aus nicht genau genannten Gründen beschnitten - und auch Max Schulz bei Hilsenrath lässt sich nach dem Krieg die Vorhaut entfernen, um eine jüdische Identität anzunehmen und so seiner drohenden Strafe als NS-Täter zu entgehen. Damit allegorisieren beide Romane die antisemitischen Projektionen vom 'Eigenen' auf das 'Fremde' - oder auch das, was Max Horkheimer und Adorno im Antisemitismuskapitel ihrer "Dialektik der Aufklärung" (1947) als "pathische Projektion" analysierten. Allerdings gelingt Hilsenrath etwas, an dem Littell eher scheitert: Sein Roman ist ein Lehrstück über das Phänomen des Antisemitismus', das mehr aussagt, als wissenschaftliche Abhandlungen es vermögen - während man bei Littell zunehmend den unguten Eindruck bekommt, hier solle womöglich angedeutet werden, die Juden hätten in Wahrheit den Holocaust selbst organisiert. Werden sie doch im Text immer wieder als potentielle Täter bezeichnet wie alle anderen Menschen auch. Die Opfer und ihre Mörder werden in Littells Roman von den unablässig verschwörungstheoretisch daherquasselnden Figuren ohne Umschweife gleichgesetzt.

Hitler erscheint Aue etwa in einer halluzinatorisch wirkenden Szene bei einer Führer-Rede im Berliner Zeughaus mit Schläfenlocken und Gebetsschal. Hoffen wir einmal, das wäre im Sinne Horkheimers und Adornos 'gemeint' - deutsche Leser können es aber auch ganz anders verstehen: "Genau, wir Armen, wir haben uns im Holocaust selbst umgebracht", oder auch: "Wir haben es doch schon immer gewusst: Der Jude steckte hinter allem!"

Mehr Kunst wäre besser gewesen

Zwar sind es stimmigerweise die Täter, die bei Littell solche Visionen haben - aber die von ihrem Umfeld distanzierte Figur Aues wird, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen, für den Leser zu einem Sympathieträger, weil er die Vorgänge in seinem Umfeld sehr wohl genau beobachtet und kritisch analysiert. Theweleit schrieb in der "taz" vom 28. Februar 2008, wo er seine Gegenrede aus der "FAS" noch einmal differenzierte, Aue sei selbstverständlich eine "Kunstfigur". Dass viele deutsche Kritiker Littells dies dem Roman empört vorgeworfen haben, ist in der Tat albern. Aber wenn Aue im Text auf unwahrscheinliche Weise 'klüger' redet, als es seine Zeitgenossen vermögen, tendiert er eben auch dazu, nach einer Art Alter-Ego-Instanz seines Autors zu klingen.

Damit werden seine pseudophilosophischen und hochproblematischen Relativierungen deutscher Schuld auf der Ich-Erzählebene unwillkürlich doch zu mehr als bloßem Gerede eines bösen SS-Mannes. "Littells Kunst oder Raffinesse besteht gerade darin, die Leser spüren zu lassen, dass ein Teil von Aues 'Rationalität' genau jener gleicht, die in der Sprache des heutigen Öffentlichen, im Nachrichtenjournalismus etwa, vorherrscht", interpretiert Theweleit. "Man wird verstrickt in Aues SS-Scheiße, wie man verstrickt ist in die Kälten der Tagesschau(en)". So kann man es, wenn man das beschriebene Dilemma positiv wenden möchte, in der Tat auch sehen.

Die Gefahr, zu verharmlosen

Die erste Rezeption des Romans in Deutschland folgte allerdings ganz anderen Parametern. Die hier etwa hinter vorgehaltener Hand unter Lesern zu hörende Behauptung, so etwas zu schreiben, könne sich wohl "nur ein Jude" erlauben, darf man mit dem Hinweis in Frage stellen, dass der Österreicher Thomas Bernhard das Gerede eines KZ-Leiters und Juristen, der einst auf Augenhöhe mit Himmler verkehrte und 'liebevolle' Fotoalben zusammenstellte, um die 'schöne, gute alte Zeit' der Vernichtung zu dokumentieren, bereits 1979 mustergültig in Dramenform gebracht hat. In seinem Stück "Vor dem Ruhestand. Eine Komödie von deutscher Seele" geht es nicht zuletzt wie bei Littell um den Inzest zwischen Bruder und Schwester. Max und Una Aue bei Littell sind bei Bernhard bereits durch das Geschwisterpaar Rudolf und Vera Höller vorgeprägt.

Die Literaturwissenschaft hat seit Adornos Diktum, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, sei Barbarei, gelernt, von einer "Nicht-Dechiffrierbarkeit" der Ereignisse der Shoah zu sprechen. Der Versuch, sie "realistisch" zu schildern, mündet demnach zwangsläufig in Kitsch und Verharmlosung. Das ist auch der Grund dafür, dass Claude Lanzmann, dessen epochaler Film "Shoah" für ein solches "Bilderverbot" steht, Littells Roman zunächst scharf kritisiert hat. Erstaunlicherweise lenkte Lanzmann jedoch 2006 in einem "FAZ"-Interview ein und meinte, was ihn an Littells Roman verblüffe, sei "die absolute Exaktheit. Alles stimmt. Die Namen der Leute, die Orte."

Doch Littell hat keine historiografische Arbeit geschrieben, sondern einen Roman. So kommt es, dass etwa die Szene, in der Aue vom Ausrasten der Angehörigen seiner Einsatzgruppe in dem Moment berichtet, in dem ihnen in der Mittagspause des Massakers von Babi Jar Blutwurst serviert wird, eben nicht historisch "stimmt". Jeder, der sich die Mühe macht, kann in der (laut Verlagsangaben auch von Littell benutzten) Arbeit Andrej Angricks ("Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943", Hamburg 2003) nachlesen, dass sich diese bizarre Szene nicht in der berüchtigten Schlucht bei Kiew, sondern während einer Massenerschießung durch das Sonderkommando 11a unweit der ukrainischen Stadt Nikolajew abspielte. So hat sie jedenfalls der Täter Albrecht Zöllner in den 1960er-Jahren vor Gericht zu Protokoll gegeben.

Ob alles, was Littell beschreibt, 'wirklich so geschehen' sei, ist also überhaupt nicht der Punkt. Die Frage müsste eher lauten, was er aus dem, was er der historiografischen Fachliteratur entnommen hat, literarisch gemacht hat. Und da muss man sagen: für die Länge des Textes doch erschreckend wenig.

Einfach abgeschrieben

Aues bester Freund Thomas zum Beispiel dient in vielen Szenen als eine Art Stichwortgeber, der über weite Strecken des Romans nur auftritt, um etwas schlaumeierisch O-Töne aus Raul Hilbergs Standardwerk zur "Vernichtung der europäischen Juden" (1961) von sich zu geben. Auch Adolf Eichmann spricht, als er in Littels Roman höchstpersönlich über die logistischen Probleme bei der Bezahlung der Reichsbahn-Deportation der griechischen Juden referiert, mehr oder weniger das nach, was Hilberg in Lanzmanns Film "Shoah" darüber erzählt.

Die 'realistischen' Evokationen umherfliegender Schädeldecken und spritzender Hirnmasse bei den ersten 'dilettantischen' Massenerschießungen im rückwärtigen Heeresgebiet der "Aktion Barbarossa" schließlich, die die Einsatzgruppen unter Billigung und Mithilfe der Wehrmacht durchführten, hatte Daniel Jonah Goldhagen bereits 1996 in seinem Bestseller über "Hitlers willige Vollstrecker" gewagt - und damit unter deutschen Historikern, die sich bis dahin lieber an nüchternes Zahlenmaterial gehalten hatten, für einen Sturm der Entrüstung gesorgt. Littell lässt sich auch von Goldhagen Schilderungen inspirieren, speist dessen Quellenanalysen aber bloß in vorhersehbar aneinandergereihte Dialoge oder Erinnerungen des Ich-Erzählers ein.

Damit kann er heute niemanden mehr schocken. Zumal Goldhagen in den 1990er-Jahren beim deutschen Leserpublikum ohnehin schon den Debattensieg davontrug. Das Problem ist dabei auch nicht, dass die Figuren Littels nicht psychologisch glaubwürdig, keine "Charaktere" seien, wie viele Kritiker meinten. Man würde sich im Gegenteil mehr offensiv herausgestellte Montage, noch mehr Konstruktion, mehr Brüche, also mehr "abstrakte Kunst" in diesem Roman wünschen: einen ordentlichen Schuss Elfriede Jelinek sozusagen, als kritischere Durchleuchtung des benutzten 'alltagsterroristischen Sprachmaterials'.

Sprich: Wenn Theweleit Littells "Kunstfiguren" gegen die Kritiker verteidigt, die sich 'realistischere' Figuren wie in der Literatur des 19. Jahrhunderts wünschten (vielleicht eine Art Martin-Mosebach-Krankheit unserer Zeit), dann möchte man dazwischenrufen: "Richtig! Aber was Littell macht, ist im Rahmen der Shoah-Literatur noch viel zu wenig abstrakt."

Ungebetene Gleichsetzungen

Darüber hinaus verstört Littell mit totalitarismustheoretischen Hirngespinsten, die er in Interviews auffälligerweise gerne genauso äußert, wie sie die Figuren seines Romans zum Besten geben. Hitlers Verbrechen vergleicht er offen mit denen Stalins und betont, er wolle das Shoah-Thema "dejudaisieren", also als allgemein-menschliches Verhängnis auffassen. "Alle" seien Deutsche.

Das ist nun wirklich eine Intention, mit der niemandem gedient ist. Es sei denn deutschen Revisionisten. Man sollte Littells Text aber wie gesagt nicht auf diese, vom Autor lancierte Lesart reduzieren - oder ihn gar mit einem pathologisierenden Gestus abtun, wie es Radisch für angebracht hielt. Man wird sich mit diesem Riesenwerk trotz allem noch einmal eingehender zu befassen haben. Vielleicht sagt es als literarisches Phänomen sogar mehr über das Geschichtsbild unserer Zeit aus als über den Nationalsozialismus selbst.

Anmerkung der Redaktion: Eine gekürzte Version des Artikels erschien bereits in KONKRET 4/2008.


Titelbild

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
1385 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007384

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