Eine Sozialgeschichte der Armut

Robert Jütte erforscht die Frühe Neuzeit

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die Fernsehbilder von unterernährten Menschen in Ländern wie Afrika oder Asien kennt, der weiß auch um ihre Halbwertszeit. Ihr Eindruck hält beim wohlsituierten Mitteleuropäer gerade einmal so lange vor, wie für die Betroffenen die Schale Reis, die sie im nächsten Versorgungscamp ergattern konnten. Schon bald hat unser Mann in seiner Ersten Welt die Blähbäuche des Hungers wieder vergessen und zieht dafür den Pullover über dem eigenen Abdomen glatt.

Ein probates Heilmittel gegen solche fast schon pathologisch anmutenden Verdrängungsleistungen verspricht uns Robert Jüttes Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit (1450 - 1800). Das Buch setzt auf das Gegengift 'historischer Erfahrung', denn "auch die eigene Geschichte lehrt, dass unsere Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit Elend und Massenarmut aus eigener Erfahrung kannten und deren soziale Begleiterscheinungen [...] fürchteten." Neben der Diskussion der Armutsursachen (Bevölkerungswachstum, konjunkturelle Schwankungen, Kriege, Krankheiten, Naturkatastrophen) und der kategorialen Erfassung ihres Ausmaßes rücken zunächst sprachliche Zeugnisse in den Blick. Während die Armen "aus Hilflosigkeit" oder "aus Unglück" im 16. Jahrhundert als rechtmäßig bzw. unverschuldet in Not Geratene (z. B. Kinder, Alte, Kranke, Gebrechliche) angesehen wurden, konnten die "verschwendungssüchtigen" Armen (z. B. Lebemänner, Vagabunden, Gauner, Prostituierte) kaum auf Mitgefühl und Unterstützung hoffen.

Im ersten Fall gestatten Mietquittungen, Nachlaßverzeichnisse und die Speisepläne karitativer Institutionen dem Sozialhistoriker Jütte detaillierte Einsichten in die erbärmlichen Zustände der Elendsquatiere und die Mangelernährung der erwerbstätigen Unterschicht. Die einschlägigen Sozialstrategien werden dabei ebenso berücksichtigt wie die Effektivität der erneuerten Armenpflege, die anhand zweier konkurrierender Systeme (zentralisierte und dezentrale Fürsorge) erörtert wird. Mit der Entstehung des modernen Staats übernahmen weltliche Behörden allmählich Verantwortung für die institutionelle Fürsorge. Doch mitunter scheint es, als sei Jüttes Zaubertrunk noch nicht ganz ausgegoren. Bedauerlicherweise verstummt das Buch gerade dort, wo man sich über das aufbereitete Datenmaterial hinaus Auskünfte über sozialpsychologische Hintergründe erhofft hätte. Welche Auswirkungen etwa hatten die unterschiedlichen Formen der Armenpflege auf den Personenkreis der Empfänger? Immerhin keimt bei Jütte der Verdacht auf, dass die unkontrollierte Form der Barmherzigkeit - das persönliche Almosen - viel spontaner und für den Beschenkten weniger diskriminierend gewesen sei.

Die zweite, mit Angst und Abneigung besetzte Kategorie - die der 'selbstverschuldeten' Armen - verzeichnete in den darauffolgenden Jahrhunderten eine erstaunliche Karriere. Immer mehr ging man dazu über, alle arbeitsfähigen Armen als Müßiggänger zu betrachten. Bereits seit dem 16. Jahrhundert erfährt die Armut des 'Arbeitsfähigen' eine folgenreiche Kriminalisierung. Der Landstreicher wird wegen seines nicht-normgerechten Verhaltens zum arbeitsscheuen und strafwürdigen Angehörigen einer Subkultur herabgesetzt: "Übeltäter wurden nicht wegen ihrer Taten verhaftet und bestraft, sondern wegen ihrer Randposition in der Gesellschaft." Zur Regulierung ihrer angeblichen Delinquenz standen noch im 18. Jahrhundert Besserungsanstalten und Arbeitshäuser bereit, in die sie eingeliefert und interniert wurden. Schon äußerlich durch Abzeichen und Bettel-Lizenz gebrandmarkt, musste sich der Mittellose einen schändlichen und ehrlosen Lebenswandel vorwerfen lassen. Leider mangelt es in Jüttes Buch an plausiblen Erklärungen für solche Zuschreibungen. Dienten Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung und Bestrafung - defensiv - der Angstabwehr oder steckt hinter ihr - offensiv - die Vorstellung vom idealen Staatsbürger? Und welche ideologischen Implikationen verbergen sich hinter Etikettierungen wie 'bedürftig' und 'selbstverschuldet'? Eine kulturwissenschaftlich kontextualisierende Analyse mittels Beschreibungskategorien wie 'Normalität' bzw. 'Normativität' und 'Abweichung' hätte Jüttes Erkundungen die nötige Bodenhaftung verleihen können.

Etwas missglückt scheint überdies, dass der Verfasser historische Formationen abstrakt gegeneinander abwägt, anstatt sie an dem jeweiligen Potential des ökonomisch-technologisch Machbaren zu messen. Um uns wirklich aus unseren heimeligen Wohlstandsträumen zu reißen, hätte Jütte sein Elixier mit einer guten Prise Sozialphilosophie - etwa einer vom Schlage Herbert Marcuses - nachwürzen müssen. Kein Wunder, dass das Urteil über die gegenwärtige Gesellschaft, sobald jene nicht mehr innerhalb ihres eigenen Möglichkeitsspielraums betrachtet, sondern eilfertig an vergangenen Jahrhunderten gemessen wird, unangemessen positiv ausfällt. Jütte erteilt die Absolution dort, wo die Problematik doch erst beginnt: "Im Bereich der Wohlfahrt dominieren jetzt die staatlichen Behörden, und dort herrscht ein neuer Geist. [...] Durch den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus büßten die sozialen Beziehungen ihre moralische Dimension ein. [...] Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel brachte neue Einstellungen gegenüber den Armen hervor. Man betrachtete das Recht der Armen auf Fürsorge und Arbeit nicht länger als Aufgabe einer staatlichen, bevormundenden Obrigkeit; vielmehr wurde soziale Sicherheit zum Anspruch des Einzelnen."

Titelbild

Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
320 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3740011181

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