Das 'Ich' ist das 'Ich' ist das 'Ich'

Wie die Herausgeber von "Stories and Portraits of the Self" das 'Selbst' im Mazerationsbad aktueller Wissenschaftsdiskurse aufweichen

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die inflationäre Verwendung eines Terminus wie etwa 'Selbst' dazu geführt habe, dass kaum ein anderer Begriff dringender der genauen Definition bedürfe als 'personale Identität', konstatierte James Mill bereits im Jahre 1829 - eine Situation, die sich in den letzten 179 Jahren kaum entspannt hat. Die Omnipräsenz wissenschaftlicher Erörterungen der conditio humana über die Grenzen der diversen Disziplinen hinweg hat hier wohl eher für zusätzliche Unschärfe denn Konkretion gesorgt. Es ist daher auch beileibe kein leichtes Unterfangen, dem sich die 23 Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes "Stories and Portraits of the Self" widmen. Hervorgegangen aus dem Zusammentreffen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus sechs Nationen im Rahmen der "annual international summerschool" des HERMES Graduiertenkollegs im Jahr 2005 in Portugal, präsentiert "Stories and Portraits of the Self" kurze, jeweils rund 10-seitige Untersuchungen zu unterschiedlichen Facetten der (De-) Konstruktion von Identität.

Dabei erscheint es verlockend, einmal Theodor Fontanes Behauptung, dass bereits der erste Satz, mindestens aber das erste Kapitel den "Keim des Ganzen" enthalte, auch einmal auf ein wissenschaftliches Werk anzuwenden. Es sei also zunächst ein Blick auf den - zugegeben nur rund ein Drittel der Seite füllenden - Klappentext geworfen, in dem das telos des Bandes beschrieben wird: "It [...] offers itself as a major contribution to a better understanding of the world in which we live in: its past legacy and its present configuration." Das zeugt zweifellos von einem gesunden wissenschaftlichen Selbstbewusstsein, doch scheint ja in der Tat die anthropologische Frage nach dem 'Selbst' in besonderem Maße als epistemologischer Schlüssel zum Verständnis der Welt fungieren zu können. Allerdings schränkt diese ebenso sinn- wie anspruchsvolle Vorgehensweise, so warnt der Klappentext, den potentiellen Leserkreis des Bandes enorm ein; "Stories and Portraits of the Self" richtet sich primär an "an academic readership". Die "general educated public" mag zwar im Idealfall auch von der Lektüre profitieren, doch, so steht zu befürchten, nur mit erheblichen Abstrichen. Wer vermeint hatte, dass Virginia Woolfs explizite (und keineswegs triviale) Ansprachen an den 'gewöhnlichen Leser' derlei elitäre Wissenschaftsattitüde endgültig zu Grabe getragen hätten, wird hier nicht nur eines Besseren belehrt, sondern steht nun als (horribile dictu!) lediglich 'gebildeter' Leser auch noch vor einer intellektuellen Gretchenfrage: Gebildet genug oder nicht gebildet genug, das scheint die Frage zu sein, die darüber entscheidet, ob man der Lektüre des Bandes verstandesmäßig überhaupt gewachsen ist.

Doch sei's drum, das Buch liegt ja nun einmal da, die Umschlagabbildung eines (etwas epigonal-modernistisch anmutenden) Gemäldes von Mário Botas verheißt eigentlich nur Gutes - also: Beherzt die intellektuellen Zweifel über Bord geworfen und die Einleitung gelesen, die darlegen wird, was genau man denn nun über 'die Welt' wird lernen können.

Dass sich wissenschaftliche Texte häufig gerade dadurch auszeichnen, dass ihre Lektüre nur Wissenschaftlern Vergnügen bereiten könne, mag fast schon als Ur-Vorteil nicht-wissenschaftlicher Leser gelten. Ein Vorurteil, das die Herausgeber Helena Carvalhão Buescu und João Ferreira Duarte, beide ihres Zeichens Komparatistikprofessoren an der Universität von Lissabon, in ihrer Einleitung nicht wirklich widerlegen: Sprachästheten und alle, die es werden wollen, wird ob der stilistischen Idiosynkrasien der beiden Verfasser sicherlich zuweilen ein leiser Schauder ergreifen. Inhaltlich mäandert die Einleitung zunächst ohne allzu klar erkennbares Ziel zwischen all jenen Wissenschaftsdiskursen, die geradezu prädestiniert erscheinen, um bei der wissenschaftlichen Beantwortung der Frage nach dem Selbst gewinnbringend zur Anwendung gebracht werden können: Aus postkolonialer Perspektive soll das 'Ich' betrachtet werden, ebenso wie aus Sicht der gender studies, der Performativitätstheorie, der Gedächtnis- und Traumaforschung aber auch der so genannten 'Zeugenliteratur'. Soziologische, psychologische und ethische Betrachtungen treffen sich dabei mit methodischen Ansätzen zur medialen, multimedialen und transmedialen (Re-)Präsentation, wobei stets die Bedingungen der primär narrativen Auto-Konstruktion des Selbst im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen. Als intellektuelle Gewährsleute werden Michel Foucault und Roland Barthes, Judith Butler und Paul John Eakin herbeizitiert. Aufgeteilt sind die entsprechenden Beiträge in drei Sektionen: Unter der Überschrift "The Representational Dilemma" wird zunächst der "long and dubious process" der Identitätsarbeit in den Blick genommen; in diesem Zusammenhang erscheint unter anderem Jan Rupps Analyse der identitätsstiftenden Funktion des Vergessens in Caryl Phillips' "A Distant Shore", wobei Rupp - analog zum post-kolonialen Gedanken des "re-membering" - den (etwas gewöhnungsbedürftigen) Neologismus des "for-getting" prägt.

Besonders bemerkenswert im folgenden Abschnitt "Signalling Identity" sind Peter Brooks' erhellende Überlegungen zum "Identity Paradigm"; ausgehend von Zweifeln an der Validität von Fingerabdrücken und ihrer daraus resultierenden juristischen Verwertbarkeit geht Brooks der Frage nach der wissenschaftlich exakten Feststellbarkeit von Identität nach und verfolgt diese bis zu den physiognomischen und phrenologischen Theorien des 19. Jahrhunderts zurück. Der Abschnitt "Images of the Self Across the Arts" schließlich bietet neben Timothy Mathews Versuch der 'wechselseitigen Erhellung der Künste', bei dem er W.G. Sebalds "Die Ausgewanderten" vor der Folie der Plastiken Alberto Giacomettis liest, auch Anke Brouwers Überlegungen zur (Selbst-) Inszenierung der amerikanischen Schauspielerin Mary Pickford ebenso wie Verena-Susanna Nungessers apropos der Darstellung Hannibal Lecters angestellten Überlegungen zur filmischen Konstruktion von Serienmördern.

Nungessers Beitrag, der sich eher mit der Ästhetik von Hollywood-generierten Massenmörderfiguren beschäftigt, endet in der resümierenden Feststellung "The metaphor of the murderer regarding himself as an artist is no longer just a metaphor. It has become a means to transport the growing complexity of the various discourses that get together within serial-killer fiction". Dabei vermag er allerdings nicht nur aufgrund der langatmigen Zusammenfassungen der drei Hannibal-Filme nicht recht zu überzeugen - unklar bleibt auch der konkrete Bezug zur erklärten Thematik des Bandes. Zugleich ist mit dieser kursorischen Betrachtung auch das thematisch-medial weite Feld angedeutet, das in "Stories and Portraits of the Self" abgesteckt wird. Das Spektrum der behandelten Künstler wiederum reicht von Cervantes und Strindberg, über Emily Dickinson, Luiza Neto Jorge, Gerrit Kouwenaar, Marie Kessel und Guimarães Rosa bis hin zu Roddy Doyle und Bruce Nauman. Positiv gewendet heißt dies, dass der Band in der Tat große Varianz zu bieten hat; weniger positiv Gestimmte könnten allerdings einwenden, dass der eigentliche Fokus des Bandes per se nicht immer ganz klar ist, und sie könnten ferner darauf verweisen, dass es zumindest fraglich ist, ob das bloße Auftauchen von Figuren in einem medialen Produkt schon dessen Behandlung als 'story' oder 'portrait of the self' rechtfertigt.

Dennoch: trotz der geäußerten Vorbehalte ist "Stories and Portraits of the Self" ein Buch, das nicht zuletzt aufgrund der Meriten vieler Beiträge sowohl Wissenschaftlern als auch den 'interessiert-gebildeten' Laien einiges zu bieten hat: Erstere werden sich wohl primär für die Ausführungen zu einzelnen Werken oder für die Anwendungsmöglichkeiten und die Tragfähigkeit aktueller wissenschaftlicher Theorien interessieren. Für letztere mag die Lektüre, je nach Interessenlage, aus ähnlichen Gründen gewinnbringend sein. Darüber hinaus werden sich jedoch eventuell auch einige von ihnen - einer sicherlich dilettantisch-kruden Etymologie folgend - fragen, inwiefern Wissenschaft hierbei tatsächlich neues 'Wissen schafft', oder ob sich viele der aktuellen Wissenschaftsdiskurse nicht doch eher auf die fortlaufende Perpetuierung ihrer selbst beschränken, dabei gezielt 'Selbst-Konstruktion' betreibend. Die Antworten hierauf werden sicherlich individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Doch selbst die wohlwollendsten Leser werden am Ende feststellen müssen, dass "Stories and Portraits of the Self" ein zentrales Verspechen der Herausgeber nicht einhält: Die Welt kann es leider nicht erklären.


Titelbild

Helena Carvalhao Buescu / Joao Ferreira Duarte (Hg.): Stories and Portraits of the self.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2007.
332 Seiten, 67,00 EUR.
ISBN-13: 9789042023284

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