Bis in alle Poren?

Franz Kasper Krönig rekonstruiert die Ökonomisierung der Gesellschaft aus systemtheoretischer Perspektive

Von Anne PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schriftsteller Burkhard Spinnen erklärte jüngst, die Literatur verdanke ihre gesellschaftliche Geltung stets einem Riesen als "Aussichts- und Wirkungsplattform", auf dessen Schultern sie als Zwergin stehe. Zunächst hieß der Riese Religion, ab dem 18. Jahrhundert kraxelte die Literatur auf den Titan namens politische Ideologie, und nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem Fehlen von Utopien träumt Spinnen davon, den Giganten Ökonomie zu besteigen. Sein emphatisches Plädoyer lautet: Schriftsteller, vereinigt Euch! Springt auf die Schultern der Ökonomie! Nur eine Ökonomisierung der Literatur könne noch verhindern, dass der ästhetische Diskurs in der Marktforschung der Verlage verschwindet. Nur auf diesen Schultern wachse die Literatur mit der Ökonomie über die Ökonomie hinaus. Die streitig gemachte Deutungshoheit müsse zurückerobert werden. Ob Spinnen sich nun danach sehnt, zum zweiten Auge des Zyklopen Ökonomie zu werden oder hofft, die Literatur könne der Ökonomie Sinn und Maß in ihre massige Schulter impfen; aus Einflussangst wird hier jedenfalls Einflusseuphorie.

Einige Systemtheoretiker würden ihm wohl gelassen-ironisch zurufen: "Träum' weiter, Spinnen! Soziale Systeme wie Kunst und Wirtschaft können sich aufgrund ihrer basalen Selbstreferenz nicht beeinflussen." Andere, wie Franz Kasper Krönig, nehmen das inflationär gebrauchte Schlagwort von der Ökonomisierung ernst, ohne es bereits als Faktum vorauszusetzen. Krönig beginnt seine Studie "Die Ökonomisierung der Gesellschaft", die er 2006 an der Universität Flensburg als Dissertation einreichte, mit der These, dass die Systemtheorie, gerade weil sie Ökonomisiertheit der Gesellschaft ausschließt, einen Prozess der Ökonomisierung problematisieren könne. Hierfür müsse Luhmanns Begriffsinstrumentarium erweitert und eine "gewisse zusätzliche kognitive Öffnung in dem Bereich der System-System-Beziehungen" erreicht werden. Sein Ziel ist also ein zweifaches: Zur Ökonomisierungsdebatte beizutragen und die Systemtheorie zu erweitern, ohne deren "Begriffsdispositionen" zu missachten. Lange mied man in den Geistes- und Kulturwissenschaften Begriffe wie Ökonomie, Kapitalismus oder Arbeit als ideologisch besetzte Altlasten. Diese Zeiten sind vorbei, und Krönig scheint einer der ersten zu sein, der eine speziell systemtheoretische Perspektive in diese Debatte einführt - über einen etwaigen Forschungsstand zum Thema Ökonomisierung innerhalb der Systemtheorie ist in seiner Studie jedenfalls nichts zu lesen.

In einem leider viel zu knapp geratenen Kapitel führt Krönig zunächst in die für seine Fragestellung relevanten Grundbegriffe der Systemtheorie ein. Zentral ist hierbei der Begriff des binären Codes, der einem selbstreferenziellen System erlaubt, die eigenen Aktivitäten im Hinblick auf Wert und Gegenwert zu beobachten. Die nichtüberschreitbare Systemgrenze definiert Krönig als "Spezifikation der Kommunikation durch den Code". Er betrachtet demnach die Grenze als systemimmanent. Dass Systeme ihre Grenze selbst festlegen beziehungsweise konstituieren, bedeutet aber nicht, dass die Grenze selbst der Systeminnenseite zuzuschlagen ist. Für Luhmann war unentscheidbar, ob die Grenze zum System oder zur Umwelt gehört. Fragen der Durchlässigkeit oder Irritierbarkeit verschiedener Systeme müssen den Grenzbegriff problematisieren.

Zur Beantwortung der Frage, wie sich Systeme gegenseitig stören, diskutiert Krönig den Begriff der strukturellen Kopplung. Darunter versteht er, dass Systeme, die im gleichen Medium (Sinn) operieren, miteinander verbunden sind und so in der Gesellschaft gehalten werden. Sie sind von ihrer Umwelt klar getrennt und doch von ihr abhängig. Systeme können durch strukturelle Kopplung Formen herausbilden. Das wird allerdings nicht weiter erklärt, ein Beispiel soll für sich sprechen: die Verfassung als Formbildung zwischen den Systemen Politik und Recht.

Aus dem Theorem der strukturellen Kopplung kann noch keine Dominanzbeziehung eines Systems über ein anderes hergeleitet werden. Krönig schließt daraus, dass Ökonomisierung sich nicht als Umwelt-Beziehung darstellen lasse. Sie müsse als systeminterner Prozess konstruiert werden. Der Umweltbegriff wird aber gar nicht erst diskutiert und die Ebenen der Systembeziehungen - System-Umwelt-Beziehung, System-zu-System- und System-zu-sich-selbst-Beziehungen - nicht klar unterschieden. Ebenso fehlen, und das ist fast noch verwunderlicher, die Begriffe Welt und Weltgesellschaft. Es ist generell eine der schwersten Aufgaben, Luhmanns komplexes Begriffsgebäude zu verdichten, aber hier wurde manch ein zentraler Begriff unproblematisiert übernommen, nicht hinreichend definiert oder weggelassen.

Um systemintern den Code anderer Systeme erfassen zu können, muss etwas zum Erstcode hinzutreten, ohne ihn funktional zu ersetzen oder temporär zu suspendieren. Dafür greift Krönig den von Niklas Luhmann nicht systematisch entfalteten Begriff der Nebencodierung auf und erweitert ihn. Krönig legt dar, dass der Nebencode nur in der Erstcodierung liegen kann. Der Nebencode soll analoge Umweltstörungen digitalisieren, während der Erstcode ein digitales Verfahren ist, das es mit digitalem Input zu tun hat. Nun kann nicht mit dem Begriff der Nebencodierung erklärt werden, wie die Nebencodierung - das Umwandeln von Umweltirritationen in Ordnung - funktioniert. Dazu führt Krönig den auf Donald A. Schön zurückgehenden Begriff der generativen Metapher ein, durch den der Präferenzwert der Erstcodierung eine paradoxe Zusatzbestimmung erhält. Die generative Metapher ist eine Beobachtungsweise, die es ermöglicht, Beobachtungsgrenzen zu überwinden. Da Krönig die Grenze aber dem System zuschreibt, kann diese unmögliche Überwindung eben nur metaphorisch funktionieren. Die Information muss vom System selbst hervorgebracht werden, indem es den Weg von der Umweltstörung durch Anders-Codiertheit hin zur Information als produktiven Fehler ansieht. Das Merkmal von Metaphern, etwas als etwas zu verstehen, reicht für die Konstruktion von generativen Metaphern noch nicht aus. Die Prädikate müssen in einen zirkulären Prozess treten und aufeinander zurückwirken, um so eine veränderte Prädikation hervorzurufen. Es handelt sich um einen nicht-linearen dynamischen Rückkopplungsprozess wechselseitiger Umdeutungen. Krönig weist darauf hin, dass die generative Metapher zwar ein heuristisches Verfahren, nicht aber eine Methode ist. Die Ergebnisse dieses Verfahrens seien aber dennoch methodisch überprüfbar.

In einem zweiten Teil der Studie zeigt Krönig an konkreten und geschickt ausgewählten Beispielen des Politik-, Kunst-, Erziehungs- und Gesundheitssystems, dass und wie Funktionssysteme generative Metaphern hervorbringen, um auf Störungen des Wirtschaftssystems zu reagieren.

So stellt das politische System mit dem logisch ins Leere laufenden Satz, "Sozial ist, was Arbeit schafft", einen internen Bezug zur Wirtschaftskommunikation her. Der Satz fungiert als generative Metapher, mit dem sich das politische System als das zugleich wirtschaftliche beobachtet. Krönig orientiert das politische System an der Leitdifferenz sozial / nicht-sozial und setzt in diesen Code "das Wirtschaftliche" ein. Aus sozial / nicht-sozial wird: sozial = wirtschaftlich / nicht-sozial. In einem dynamischen Prozess wird durch die Nebencodierung Ungleiches gleich gesetzt. "Sozial" und "das, was Arbeit schafft" sind zwei verschiedene Kategorien. Die krasse Diskrepanz zieht eine wechselseitige Umdeutung nach sich, bis eine neue Gesamtbedeutung entsteht. Die Paradoxie lautet: Es gilt, Arbeit zu schaffen, egal zu welchen sozialen Standards - und das wiederum als sozial auszugeben. Die Politik operiert also nicht direkt mit der Wirtschaftscodierung, sonst würde es sich um Wirtschaftskommunikation handeln. Sie baut die fremde Operation - als zwangsläufig fehlerhaft beobachtete - in die eigene ein. Sie macht das nicht, um irgendetwas Richtiges zu kommunizieren, sondern um ihrer eigenen Selbsterhaltung willen. Generative Metaphern machen flexibel und anpassungsfähig zugleich. Dann könnte man den Satz aber doch auch, leicht variiert durch die Worte des Satirikers Bernd Zeller, als generative Metapher der Wirtschaft betrachten: "Vollbeschäftigung ist wieder möglich, wenn man nicht gleich auch Vollbezahlung erwartet!". Die jobless-growth-Formel hierfür würde lauten: Billiglöhne = sozial / Profit. Die zahlreichen weiteren Beispiele von Nebencodierungen zur Wirtschaft zeigen, dass sich die Systeme durch dieses Verfahren von ihrem eigenen Funktionsbezug entfernen.

Krönigs Abhandlung stellt einen hochgradig anschlussfähigen, originellen und streitbaren Forschungsbeitrag dar. Die Systemtheorie ist eigentlich eine Art Theorie der kapitalistischen Weltgesellschaft beziehungsweise der Globalisierung. Oder zumindest, wie Walter Reese-Schäfer in seiner Luhmann-Monografie betont, bereitet sie eine Theorie der Globalisierung vor. Der Beleg für die Existenz und Wirksamkeit einer Weltgesellschaft liegt für Luhmann im Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Weltgesellschaft ist weder ein Weltstaat noch eine Weltzivilgesellschaft. Aber nationalstaatenübergreifende Variationen der Ökonomisierung, zum Beispiel die Tatsache, dass der Kapitalismus auch in autoritären Staaten gedeiht, dass er ab einer bestimmten Entwicklungsstufe aber formale Demokratie und Gleichheit benötigt oder dass in Transformationsländern manche Funktionssysteme erst gar nicht ausdifferenziert werden, könnten mit und anhand der Systemtheorie untersucht werden. Auch eine Ökonomisierung des Wirtschaftssystems wäre vor dem Horizont der Weltgesellschaft analysierbar.

Krönigs hochspannende Fragestellung scheint durch das nicht nähere Definieren sowie Ausblenden einer ganzen Reihe von systemtheoretischen Begriffen selbst ein wenig der Ökonomisierung der Wissenschaft (generative Metapher: effiziente Qualitätsforschung) zum Opfer gefallen zu sein - oder der Autor hat in selbstreferenzieller Manier das eigene Thema am eigenen, schlanken Text demonstriert.


Titelbild

Franz K. Krönig: Die Ökonomisierung der Gesellschaft.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
164 Seiten, 20,80 EUR.
ISBN-13: 9783899428414

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