Zurück nach Prag

In "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" schildert Alice Rühle-Gerstel das Leben im Exil aus der Sicht einer Frau

Von Lizette JacintoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lizette Jacinto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst im Jahre 1984 erschien "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" im Fischer Taschenbuch Verlag zum ersten Mal, obwohl dieser Roman bereits 1938 verfasst worden war. Jetzt, dreiundzwanzig Jahre nach der ersten Auflage, präsentiert der Aviva Verlag eine neue und verbesserte Ausgabe des Werks der deutsch-jüdischen Intellektuellen Alice Rühle-Gerstel (1894-1943), die im Exil zunächst in Prag und dann ab 1936 in Mexiko lebte. Dort wohnte sie bei Otto Rühle, bis sie 1943 Selbstmord beging. Die Idee des Romans hatte die Schriftstellerin, Übersetzerin und Individualpsychologin zwischen 1932 und 1936 während ihres ersten Exils in ihrer Geburtsstadt Prag skizziert. Die Herausgeberin Marta Marková schreibt in ihrer biografischen Notiz: "Als Alice Rühle-Gerstel 1932 nach Prag zurückkehrte, war sie gerade 38 Jahre alt geworden. Sie stand am Höhepunkt ihres beruflichen Lebens, und doch war sie auf der Flucht". Die Autorin versuchte, in einer neuen Art und Weise ihre Meinungen über die sozialen und politischen Bedingungen in Europa in einem internationalen Kontext zu formulieren. Vor diesem Hintergrund wurde ihr Werk "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" als der einzige Roman einer sozialistischen Emigrantin angesehen, der nicht nur antifaschistisch, sondern antistalinistisch zugleich war.

Obwohl die Autorin, die enge Kontakte zur Avantgarde ihrer Zeit hatte, eine der relevanten Feministinnen und Marxistinnen der zwanziger Jahre im deutschsprachigen Raum war, wandte sie sich gegen das stalinistische Regime. Ihr Roman, in dem sie sich mit der politischen Situation in Prag während der dreißiger Jahre auseinandersetzte, stieß auf sehr positive Resonanz unter Kommilitonen, Intellektuellen und Freunden und wurde bald als einer der wesentlichen Romane der Exilliteratur bezeichnet. Die Protagonistin Hanna Last trägt unverkennbar autobiografische Züge, insbesondere was ihre Persönlichkeit und ihre Erlebnisse betrifft, die deutliche Parallelen zu Alice Rühle-Gerstel aufweisen, so zum Beispiel ihre Arbeit an Zeitschriften sowie Zeitungen in deutscher Sprache.

Alice Rühle-Gerstel erfuhr die politische Verfolgung durch die Nationalsozialisten am eigenen Leibe, als sie zusammen mit ihrem Mann, dem bekannten Pädagogen Otto Rühle, nach Dresden kam. Dort gründete das Ehepaar den Verlag "Am andern Ufer", in dem sie zahlreiche Schriften zur Individualpsychologie sowie zum Marxismus in Verbindung mit Frauenfragen veröffentlichten.

Allerdings mussten die Verlagsgründer wegen der Verfolgung durch die Gestapo ins Exil fliehen. Ihr erstes Ziel war Prag, die Geburtsstadt von Alice Rühle-Gerstel, die dort einen Bruder - Bedrich Gerstel - hatte. Prag, wo eine der berühmtesten Universitäten des 19. Jahrhunderts ansässig war, hatte sich zu Beginn der dreißiger Jahre zu einer der bedeutendsten Städte Europas und zu einem der wichtigsten Ziele europäischer politischer Flüchtlinge entwickelt. Während der ,Goldenen zwanziger Jahre' expandierte Prag auch kulturell, entlang der Moldau sowie am Platz der Republik (Námestí Republiky) fanden sich zahlreiche Cafés und Galerien. Alice, die einer wohlhabenden jüdischen Familie entstammte, die Möbel herstellte, rechnete in Prag fest mit der finanziellen Unterstützung durch ihre Familie.

Über ihre Kontakte mit zahlreichen europäischen Intellektuellen sowie mit Journalisten und Redakteuren bekam sie einen Job beim "Prager Tagblatt", der bedeutendsten deutschsprachigen bürgerlich-liberalen Tageszeitung Prags, und kam in Berührung mit der Bohème der Stadt. Mit den Intellektuellen traf sie sich zu Stammtischen, bei denen die politische Situation analysiert und diskutiert wurde.

Das Manuskript des historisch-autobiografischen Romans "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" wurde 1938 im mexikanischen Exil abgeschlossen. Das Ehepaar Rühle wohnte in Mexiko zwischen 1936 und 1943, während des Regimes von General Lázaro Cárdenas, einer Regierung mit sozialistischer Ausrichtung, die für politische Flüchtlinge offen war, so dass viele von ihnen dorthin ins Exil gingen. Für das Gros war Mexiko nicht das Hauptziel, aber trotz hoher bürokratischer Hürden betrachteten viele Flüchtlinge das Land als ihr Zuhause.

Der nun in einer Neuauflage vorgelegte Roman kann als einer der wichtigsten Exilromane überhaupt gelten, vor allem, weil er ein realistisches Porträt der dreißiger Jahre bietet. Die Autorin schrieb damals in einem Brief an ihre beste Freundin: "Mein Buch ist ein Roman, ein bisschen autobiographisch, das Leben in der Prager Emigration, vermischt mit einer Liebesgeschichte und der Abwendung der Heldin von der Kommunistischen Partei".

Auch die politische Entwicklung der Jahre 1934 bis 1936, verschiedene Ereignisse dieser Zeit und insbesondere die Lebensbedingungen der kommunistischen Emigranten in der Tschechoslowakei sind in dem Roman realitätsgetreu dargestellt. Hanna Last, die Protagonistin, muss auf Grund der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Deutschland wieder in ihre Geburtsstadt Prag zurückkehren. Währendessen bleibt ihr Mann Karl als Gefangener im Zuchthaus in Waldheim. Die verschiedenen Spannungen in der KPC prägen den Roman, sowie die Widersprüche des Lebens im Exil. Sowohl die Solidarität als auch die Denunziationen gegen die linken Gruppen zeigen die Schwierigkeiten in einer Zeit, in der die Gewalt zum Alltäglichen geriet. Vor allem ist das Thema des Romans die Sehnsucht einer jungen Frau nach Freiheit, welche sie vor Umbruchssituationen in Deutschland als auch in Prag fliehen lässt.

Die Autorin hat ihren gesamten Nachlass Esteban Kalmar, einem engen Freund und ebenfalls Exilant in Mexiko, überlassen. Aus seiner Sicht ist das Werk in erster Linie ein Frauenroman, ein Roman von einer klugen Frau in der Männergesellschaft, der es über die förmliche Gleichberechtigung von Mann und Frau hinaus um die verschüttete wahre Identität der Frau ging.

Herausgeberin Marta Marková hat für die neue Auflage eine kleine Biografie der Autorin verfasst. Bereits im Februar 2007 hatte sie "Alice ins Wunderland. Das Leben der Alice Rühle-Gerstel" veröffentlicht, wo man mehrere Details über das Leben der Autorin erfahren kann. Die neue Auflage des Aviva Verlags beinhaltet eine Reihe von Fotos, die die Zeit Alice Rühles und damit die von Hanna Last dokumentieren. Bei den Bildern im Buch handelt es sich um historische Ansichtskarten aus dem Verlagsarchiv. Ein Schwerpunkt des Verlags bildet die Reihe "Wiederentdeckte Schriftstellerinnen" mit Werken der 1920er- und 1930er- Jahre.

"Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" stellt zum einen eine stark biografisch geprägte Abrechnung mit einer politisch-sozialen Illusion dar, ist zugleich aber auch eine Liebeserklärung an Prag. Der "Umbruch" im Titel steht dabei einerseits als Synonym für das Befinden von Hanna Last, anderseits für die gesellschaftlichen Umwälzungen der Zeit.

Wegen der ökonomischen Schwierigkeiten des Ehepaars Rühle ruhten Alices ganze Hoffnungen auf dem Preis für den besten Exilroman der Organisation "The American Guild for German Culture Freedom", den am Ende jedoch ein Deutscher, Arnold Bender aus Bochum, für die Übersetzung und Veröffentlichung seines Werkes: "Es ist später, denn ihr wisst" erhielt. Die Briefe von Alice Rühle-Gerstel aus dieser Zeit zeigen, dass das Problem der Veröffentlichung ihres Romans im Grunde genommen ihre größte Sorge war, denn sie schrieb in den Briefen über die Schwierigkeiten des Publizierens. Der Roman ist der längste literarische Text, den die Autorin geschrieben hat. Durch dieses Werk sieht man das Exil nicht mehr nur als Schicksal von Männern, sondern auch als eine Geschichte von Frauen und ihrer vielfältigen Welt.


Titelbild

Alice Rühle-Gerstel: Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Roman.
AvivA Verlag, Berlin 2007.
444 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-13: 9783932338311

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