Fliehkräfte

Jo Lendle inszeniert Selbstfindung als Raumfahrt

Von Jürgen WichtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wicht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hans Schlegel dieser Tage im Auftrag der europäischen Weltraumagentur ESA um Astronautennachwuchs warb, fand er für seine Profession ebenso einfache wie einleuchtende Worte. Er beschrieb den Flug ins All als verlockende "Suche nach dem Unbekannten, nach der Erkenntnis über die bisher bekannten Grenzen hinaus."

Während die Schwärmerei des deutschen Astronauten an die durchaus überschaubare Gruppe qualifizierter Kandidaten einer europäischen Weltraummission gerichtet war, erzählt Jo Lendle in seinem Roman "Die Kosmonautin" von einer nicht mehr allzu fernen Zukunft, in der dieses Privileg auf heruntergekommenen Weltraumbahnhöfen als abenteuerliche touristische Attraktion angeboten wird.

Da aber in der Raumfahrt Faszination und Risiko untrennbar miteinander verbunden sind, muss die Weltraumtouristin Hella vom Direktor eines Kosmodroms in der ehemaligen Sowjetunion über die möglichen Gefahren einer Mondreise aufgeklärt werden. Die Aufzählung des Wissenschaftlers umfasst "zunächst die Beschleunigung des Starts, an zweiter Stelle die Schwerelosigkeit, als drittes die lebensfeindliche Umgebung des Weltraums, und schließlich viertens das schwer faßbare Gefühl einer Entfernung von der Erde [...]".

Was als obligatorische Belehrung zukünftiger Kosmonauten daherkommt, beschreibt in allgemeinerem Kontext die gesamte Bandbreite menschlichen Erlebens. Wer den wirkenden Fliehkräften nichts entgegensetzen kann, wird aus der Bahn geworfen. Selbstfindung und -erkenntnis gestalten sich schwierig und es verwundert nicht, dass die Bemühungen der angehenden Sternenfahrerin weniger dem Flug zum Mond als vielmehr der irdischen Notwendigkeit einer Neupositionierung geschuldet sind.

Hellas Sohn wurde bei einem Verkehrsunfall getötet. Durch diese erschütternde Erfahrung aus der Bahn geworfen, beschließt die allein erziehende Mutter, als ihr der Gewinn eines Preisausschreibens einen Besuch des Mondes erlaubt, den ehemals größten Wunsch des Sohnes an seiner Statt zu erleben. Vor der Raumfahrt steht aber zuerst eine schier endlose Reise durch eine kaum besiedelte Steppenlandschaft, zum Weltraumbahnhof. Viel Raum, den der Autor besonders für umfassende Retrospektiven seiner Heldin nutzt, deren innere Orientierungslosigkeit anfangs nur durch das äußere Ziel kompensiert werden kann. Erst die herzlichen Kontakte zu den Mitarbeitern des Kosmodroms führen Hella langsam, aber stetig aus Perspektivlosigkeit und Isolation.

Während die von der Analogie zwischen Raumreise-Metaphorik und Biografie getragene Struktur des Romans die Handlung in stimmiger Weise stützt, ist es besonders die außergewöhnlich bildhafte Sprache des Schriftstellers, die begeistert und mit der einige Versprechungen veritabler Dichtung eingelöst werden. Die sprachlichen Figuren sind eindringlich und plastisch, im besten Sinne impressionistisch. Insbesondere aber wirken sie erfreulich unverbraucht. Es scheint, als verrate die Welt dem Dichter fortwährend neue Geheimnisse. Empfindungen und Momente, die an den Rand gedrängt, und dem Blick entrückt sind, werden aufgenommen - Dinge, die marginalisiert wurden und nur von einem Poeten wieder entdeckt werden konnten.

Die meisterhafte Fabulierkunst Lendles ist es denn auch, die den Zauber des Romans ausmacht. Wenn er seine Heldin durch die Steppe fahren lässt, " [a]uf einer Reise, die nicht ihre war, weil es ihre eigene nicht mehr gab", während "ihre Bewegung [...] allein im Auf und Ab [lag], mit dem sie dem hügeligen Verlauf des Landes folgte", dann befinden sich Poesie, Traurigkeit und Hoffnung in schwerelosem Gleichklang.

Bewegung ist aber nicht nur sprachlich zentrales Thema des Buches. Für Hellas Trauerarbeit ist sie letztendlich wichtiger als jede, wie auch immer geartete Ankunft. "Die Kosmonautin" stellt sich den inneren und äußeren Fliehkräften und tröstet sich mit der Erinnerung an den geliebten Sohn. Nicht im All, sondern in der vorderasiatischen Steppe findet sie Perspektive und Orientierung. Im Grunde ist es eine gänzlich irdische Reise, der sie Hoffnung und Trost verdankt.


Titelbild

Jo Lendle: Die Kosmonautin.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
190 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043436

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