Alte Rhetorik, neue Lehrbücher

Neue oder neu aufgelegte Werke zur Theorie der Beredsamkeit

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man in den 1990er-Jahren in Tübingen "Allgemeine Rhetorik" studierte, gab es nur ein Lehrbuch: der am Seminar erarbeitete und damit quasi-kanonische "Grundriss der Rhetorik", verfasst von Gert Ueding und Bernd Steinbrink. Man kaufte das Buch mit Hörerrabatt gegen Bares im Sekretariat im fünften Stock des (damals noch inoffiziell so genannten) "Brecht-Baus". Gerne gelesen haben wir den "Grundriss" nicht. Er hatte unter uns Studierenden immer einen zweifelhaften Ruf: Schwer verständlich, akademisch-umständlich, viel zu zitatlastig und insgesamt zu lang - aber er war das Standardwerk, durch das sich jeder Rhetorikstudierende regelrecht durchkämpfen musste.

Vielleicht hängt das Unvergnügen, das wir damals empfanden, mit der langen Entstehungsgeschichte des Buches zusammen, das aus einem Hannoverschen Oberseminar zu Beginn der 1970er-Jahre hervorgegangen war (1976 publiziert als "Einführung in die Rhetorik") und seit Mitte der 1980er-Jahre im Abstand von je einer Dekade neu herausgebracht wurde. 2005 ist eine vierte, aktualisierte Auflage erschienen. Sie beseitigt, so Gert Ueding im Vorwort, "Irrtümer und Ungenauigkeiten". Neues ist also nicht zu erwarten. Das bestätigt ein Vergleich der unterschiedlichen Auflagen, der kaum nennenswerte Abweichungen zutage fördert. Die Kapitel über die Antike, verfasst von Bernd Steinbrink, entsprechen dem Text von 1976, die sich anschließenden Abschnitte über die Geschichte der Rhetorik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts präsentieren im Wesentlichen den Stand der Neufassung von 1986. Substanziell bearbeitet wurde der Text auch für die vorliegende Auflage nicht. Auch Fehler, die man vor 20 Jahren schon in der zweiten Auflage finden konnte, sind unverändert wieder abgedruckt worden, trotz der Legionen von Hilfskräften, die in den vergangenen Jahrzehnten mit "Revision und Fahnenkorrektur" beschäftigt wurden und denen in den Vorworten ordentlich gedankt wird. Abgewandelt wurde die Abfolge der Kapitel im zweiten, systematischen Teil des Lehrbuchs; sie folgt nun stärker den einzelnen Produktionsstadien der Rede und damit einer Disposition, die intuitiv zugänglicher ist.

Die auffälligsten Veränderungen betreffen die "Einleitung in die Rhetorik", mit der Gert Ueding das Buch eröffnet. Sie setzt neue und überraschende Akzente, weil sie nicht mehr nur vom Untergang oder von der Kontinuität der Rhetorik spricht, wie die nachfolgenden historischen Kapitel, sondern die Wendung von den "Transformationen der Rhetorik" gebraucht. Konsequent durchdacht ist das alles nicht, aber Ueding entgeht auf diese Weise dem latenten Widerspruch, in der Diskontinuität der Rhetorikgeschichte doch Kontinuität zu finden, wie es als historiografisches Narrativ dem historischen Teil des "Grundrisses" zugrunde liegt ("Am rhetorischen Ursprung und Grundzug der romantischen Literaturkritik kann kein Zweifel bestehen, wenn auch [...] die rhetorischen Techniken der kritischen Analyse mehr und mehr an Bedeutung verlieren.").

Ansonsten bietet der "Grundriss" - das muss bei aller Kritik auch einmal gesagt werden - gerade im systematischen Teil durchweg solide und auch für Erstsemester verständliche Informationen. Wer einen Überblick über die Teile des rhetorischen Systems sucht, der konsequent aus den antiken Quellen (Aristoteles, Cicero, Quintilian, Pseudo-Longin) geschöpft sind, der wird hier fündig werden. Der historische Teil ist allerdings nach einem Vierteljahrhundert, das eine regelrechte Explosion der historischen Rhetorikforschung mit sich gebracht hat, mehr als revisionsbedürftig und nur mit der nötigen Vorsicht und entsprechender Kennerschaft noch zu lesen. Als Einführungswerk taugt das Buch nicht mehr. Dennoch gibt es auch in dem historischen Teil einige Kapitel, die nichts weniger als brillant sind, etwa die Abschnitte über "Philosophie und Rhetorik" im Kapitel "Aspekte moderner Rhetorik-Rezeption". Sie sind an aktuelle Fragestellungen eines rhetorical turn unmittelbar anschlussfähig.

Das zweite Buch, ein Band der "Sammlung Metzler", entstammt ebenfalls dem Tübinger Seminar. Er wurde von Clemens Ottmers, "ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter", wie wir dem Klappentext entnehmen können, verfasst. Der Band mit dem schlichten Titel "Rhetorik" ist 1996 erstmals erschienen. Auch er wurde in aktualisierter und erweiterter Form neu aufgelegt. Das Buch ist nach den klassischen Theoriebereichen der Rhetorik gegliedert und behandelt nach einer knappen Einleitung die rhetorischen Gattungen, die Redeteile, Argumentations- und Stiltheorie sowie die "Performanzstadien der Rede", also das Auswendiglernen und den Vortrag. Anders als bei Ueding/Steinbrink werden bei Ottmers knappe Abrisse der Rhetorikgeschichte in die Behandlung der einzelnen Systemteile integriert; sie bieten jeweils einen von der Antike ausgehenden Überblick über das Weiterleben und das Schicksal der betreffenden Theoriebereiche. Insbesondere die kulturgeschichtlichen Kontexte kommen dadurch etwas zu kurz, aber das ist bei einer auf die Theorie der Rhetorik fokussierten Darstellung nicht anders zu erwarten. Der Band bietet in seiner Kürze ebenfalls einen soliden Überblick über die Teile des rhetorischen Systems. Gelungen sind sowohl Ottmers' Abrisse der antiken Theorie als auch die vorsichtigen Aktualisierungen in den Kapiteln über Argumentations- und Stiltheorie, die auf Forschungen des 20. Jahrhunderts zurückgreifen, im Bereich der Argumentationslehre etwa auf die grundlegenden Studien Manfred Kienpointners. Eine einigermaßen vollständige Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zur Theorie der Rhetorik bieten sie aber nicht, auch keine Perspektiven für die künftige Forschung.

Fabian Klotz, "Doktorand und Lehrbeauftragter am Seminar für Allgemeine Rhetorik", hat das Werk nun überarbeitet. Allzu viel Mühe hat er sich damit nicht gemacht. Die neuere Rhetorik-Forschung der letzten zehn bis fünfzehn Jahre taucht nicht einmal bruchstückhaft auf. Insbesondere verwundert, dass der Überarbeiter nicht ein einziges Mal auf die zahlreichen seit 1996 erschienenen Artikel des umfassenden, ebenfalls am Tübinger Seminar erarbeiteten "Historischen Wörterbuchs der Rhetorik" zurückgegriffen hat. Auch die neueren Übersetzungen etwa von Ciceros "De inventione" (1998 durch Theodor Nüßlein in der angesehenen "Sammlung Tusculum"), Augustinus' "De doctrina christiana" (2002 durch Karla Pollmann; Reclam), Philipp Melanchthons "Elementa rhetorices" (2001 durch Volkhard Wels) oder Chaim Perelmans für die Argumentationstheorie zentraler Abhandlung "La nouvelle rhétorique" (2004 durch Josef Kopperschmidt und Freyr R. Varwig; Fromann-Holzboog) sucht man im Literaturverzeichnis, das nur um etwa 20, überdies recht willkürlich ausgewählte Titel ergänzt wurde, vergeblich. Das ist um so bedauerlicher, als der Band sich primär an Studierende richtet, die auf solche möglichst aktuellen Übersetzungen angewiesen sind. Der Text selbst ist gegenüber der Erstauflage nahezu unverändert, lediglich ein recht nichtssagendes Kapitel über "Angewandte Rhetorik der Gegenwart", das sich auch nicht ins Gesamtkonzept eines theorieorientierten Einführungsbuches fügen will, ist neu.

Von der angekündigten Aktualisierung also keine Spur. Gravierender ist, dass auch die Fehler der Erstauflage unverändert übernommen wurden. Das betrifft sachliche Fehler (der Franzose Le Faucheur etwa ist nach wie vor nicht der Verfasser der "erste[n] eigenständige[n] actio-Abhandlung", wie es bei Ottmers heißt), falsch geschriebene Namen ("Meyfarth" statt "Meyfart"), Titel ("Aestetica" statt "Aesthetica"), aber auch einfache Tippfehler ("Antione Arnauld" statt "Antoine Arnauld"), die nicht korrigiert wurden. Insgesamt stellt dies dem Bearbeiter wie dem Metzler-Verlag kein gutes Zeugnis aus. Es scheint, als hätte man die ganze Arbeit ins Layout gelegt, den eigentlichen Text selbst gar nicht mehr gelesen. Wer antiquarisch Zugriff auf die Erstauflage hat, kann Geld sparen.

Überzeugender ist der UTB-Band "Rhetorische Kompetenz", den Heike Mayer, eine weitere Ex-Tübingerin, verfasst hat. Sie versucht gleich in mehrerlei Hinsicht Brücken zu schlagen: Zwischen dem Elfenbeinturm der wissenschaftlichen Rhetorikforschung und dem immensen Bedarf an praktischer Schulung einerseits und zwischen der Rhetorik als vergessener Disziplin und der gegenwärtigen Erforschung persuasiver Phänomene in den Sozial- und Kognitionswissenschaften andererseits. Es geht also um eine Fortschreibung der Rhetorik, bei der nicht zuletzt die neuere Emotionsforschung umfassend berücksichtigt wird. Am Ende ist auch Heike Mayers Buch kein praktisch orientierter Rhetorik-Ratgeber. Es möchte den Leser vielmehr "zu eigenen Urteilen und zu eigenverantwortlichen Entscheidungen über die Gestaltung ihrer eigenen rhetorischen Praxis" führen: "Es geht um die Vermittlung historischer und theoretischer Grundlagenkenntnisse, die auf verständliche Weise präsentiert und mit möglichst lebensnahen und aktuellen praktischen Beispielen illustriert werden."

Anders als Ueding/Steinbrink und auch Ottmers geht die Autorin nicht vom rhetorischen System - der Abfolge der einzelnen Stadien der Textproduktion und ,Aufführung' der Rede - aus. Sie setzt basaler an, bei den drei Überzeugungsmitteln, zwischen denen schon Aristoteles am Beginn der abendländischen Rhetorikgeschichte differenziert hatte. In seiner "Rhetorik" unterscheidet er nämlich den Logos, also die auf Argumentationen basierenden Mittel, vom Ethos, dem möglichst glaubwürdigen ,Image' des Redners und dem Pathos, also denjenigen Kunstgriffen, mit denen der Redner die Emotionen seiner Zuhörer erregt und dadurch Zustimmung erzeugt. Diese Trias wird zum Strukturprinzip ihres Buches. Besonders interessant ist dabei das Pathos-Kapitel, denn gerade die Affekte hat man in der Geistesgeschichte häufig diffamiert und marginalisiert. Hat die Rhetorikforschung des 20. Jahrhunderts das Feld der Argumentationstheorie reich bestellt, so liegt die Affektrhetorik noch weitgehend brach. Heike Mayer knüpft an Platon an, der in seinem Dialog "Phaidros" die Redekunst als Psychagogie, also als Kunst, die Seele des Zuhörers zu führen, bezeichnet hat.

Die antike Theorie ist die eine Stütze, auf die die Autorin ihre Argumentation baut, die moderne Persuasions- und Emotionalitätsforschung ist die andere. Dabei kommen Forschungsergebnisse von Disziplinen in den Blick, die für die Rhetorik zentral sind, die man bei Ueding/Steinbrink wie Ottmers aber vergeblich sucht: Etwa das "Elaboration-likelihood"-Modell, mit dem Psychologen Prozesse der Formierung von Einstellungen untersuchen, oder die Theorie der ,kognitiven Dissonanz', mit der man erklären kann, warum Menschen von einmal gefestigten Einstellungen kaum wieder abzubringen sind, oder - um ein letztes Beispiel zu nennen - wie Menschen es schaffen, sich gegen Rhetorik regelrecht zu immunisieren.

All dies sind Themen, die auch in Lehrbüchern der Sozialpsychologie zu finden sind. In der Rhetorik sind diese Theorien bislang aber weitgehend unbekannt. Heike Mayer führt die wesentlich aus der Antike stammende Rhetoriktheorie also an den Stand unseres Wissens über das kognitive ,Funktionieren' des Menschen heran - ohne sich hier und da die Spitze zu verkneifen, dass manche der von Psychologen in aufwändigen empirischen Studien gewonnenen Erkenntnisse in der folk psychology der Rhetorik schon seit mehr als zwei Jahrtausenden vorhanden sind. Insgesamt ein sehr spannendes und lehrreiches Buch, das durch viele aktuelle Literaturhinweise zum Weiterlesen und -denken einlädt.

Ein viertes Buch stammt nicht von einem Tübinger, sondern dem 1992 verstorbenen Romanisten Heinrich Lausberg, der an den Universitäten Münster und Paderborn lehrte (aber wenigstens in Tübingen studiert hatte). Mehr noch als beim "Grundriss" von Ueding/Steinbrink war der metonymisch so genannte "Lausberg" eines jener furchteinflössenden Bücher, um das man im Rhetorik-Studium einen möglichst weiten Bogen machte.

Sein "Handbuch der literarischen Rhetorik" ist 1960 in erster Auflage erschienen. Was der "Lausberg" bietet, ist das System der griechischen und lateinischen Rhetorik in seinen kleinsten Verästelungen. Das fast 1000-seitige Buch ist nur durch ein umfangreiches terminologisches Register (für die Sprachen Griechisch, Latein, Französisch) und durch ein zehnseitiges Inhaltsverzeichnis überhaupt zu benutzen.

Dabei mutet bescheiden an, was der Verfasser in seinem Vorwort ankündigt: "Anspruch auf Vollständigkeit in der Erfassung der antiken rhetorischen Phänomene und Termini selbst kann die vorliegende Darstellung" nicht erheben: "eine Beschränkung auf das Exemplarische gebot allein schon der zur Verfügung stehende Raum." Das "Handbuch" versteht sich primär als Hilfsmittel zur rhetorischen Textanalyse, nicht als Rhetorikratgeber. Ein Großteil des Buchs widmet sich deshalb der Definition rhetorischer Stilmittel - in einer Präzision und Vollständigkeit, die immer noch konkurrenzlos ist.

Wer das "Handbuch" benutzen kann, befindet sich bereits im rhetorischen Master-Studium und hat Ueding/Steinbrink und Ottmers schon gründlich gelesen. Ohne Grundwissen über die Architektonik des rhetorischen Systems, ohne zumindest rudimentäre Kenntnisse klassischer Sprachen lässt sich der "Lausberg", der wie ein Monument der Gelehrsamkeit des 19. Jahrhunderts zu uns herüberragt, nicht benutzen. Das "Handbuch der literarischen Rhetorik" ist ein unzeitgemäßer Klassiker im besten Sinne. Dass es deshalb in einem reprografischen Nachdruck neu aufgelegt wurde, ist nur konsequent. Bücher wie der "Lausberg" brauchen keine Aktualisierung, weil sie ein Wissen aufbereiten, dass ohnehin seit 2000 Jahren, seit der Blütezeit der römischen Rhetorik, mehr oder weniger unverändert geblieben ist. Seine Aktualität hat das "Handbuch" deshalb aber noch lange nicht verloren. Dem Verlag ist zu danken, dass man es jetzt auch wieder kaufen kann.


Titelbild

Gert Ueding / Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte - Technik - Methode.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
417 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-10: 3476020576

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Titelbild

Clemens Ottmers: Rhetorik. 2. erweiterte Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
266 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783476122834

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Kein Bild

Heike Mayer: Rhetorische Kompetenz. Grundlagen und Anwendung.
Schöningh Verlag, Paderborn 2007.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783825283612

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Titelbild

Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft.
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008.
983 Seiten, 96,00 EUR.
ISBN-13: 9783515091565

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