Vom Golem und anderen extraordinären Wesen

Uwe Durst versucht sich an einer ultimativen Begriffsbestimmung des Phantastischen in der Literatur

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bestimmung des Phantastischen hat, trotz der Marginalität des Genres im Wissenschaftsbetrieb, einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass mit der Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Fächer auch die Unterhaltungsliteratur in den Fokus genommen wurde, dass zudem mit der Beliebtheit des Genres und der Offenheit der Forschungsfelder auch hier das Interesse an einer strengeren wissenschaftlichen Forschung wuchs. Dabei haben sich in der Vergangenheit eine maximalistische Position, in der alle Abweichungen von den Naturgesetzen als phantastisch angesehen werden, und eine minimalistische Position herausgebildet, in der das Phantastische als Produkt des Widerstreits zweier inkompatibler Erklärungsweisen angesehen wird.

Mit Uwe Durst legt nun einer der prominentesten Vertreter des minimalistischen Ansatzes der jüngeren Generation seine grundlegende "Theorie der phantastischen Literatur" in einer verbesserten zweiten Auflage vor. Diese Wiederauflage ist für eine literaturwissenschaftliche Studie erstaunlich, weist aber nicht zuletzt auf das besondere Interesse hin, das das Genre genießt.

Durst nimmt - wenig überraschend - die Studie von Tzvetan Todorovs "Einführung in die fantastische Literatur" als Ausgangsbasis, die bis heute wohl der wichtigste Referenzpunkt der Diskussion geblieben ist. Todorov bereits hatte die Bedeutung der Weltentwürfe, die in der Phantastik einigermaßen unvermittelt einander gegenüber stehen können, in den Mittelpunkt gestellt.

Durst unternimmt nun den Versuch einer Weiterentwicklung des minimalistischen Ansatzes. Er greift dabei vor allem auf die Thesen der russischen Formalisten und Strukturalisten zurück, mit denen er das Phantastische nicht an einer wie auch immer gearteten Realität misst, sondern es als Spielform des Literarischen bestimmt. Nicht die Wirklichkeit, nicht die Naturgesetze bestimmten die Grenzen des Phantastischen, sondern die Differenz zwischen einem innerliterarischen Regulären und einem gleichfalls innerliterarischen Phantastischen.

Die Abweichung von einem im Text selbst definierten Regulären mache das Phantastische aus. In diesem Sinne ist, folgt man Durst, die Realität für das Phantastische irrelevant - ohne dass dabei irgendetwas über Literatur ausgesagt worden wäre. Das aber liefert Durst gleich mit, denn indem er das Phantastische über das Literarische, genauer gesagt das Narrative zu bestimmen sucht, gerät ihm jede narrative Literatur notwendig zum Wunderbaren, ist sie doch fiktional und imaginär. Realistisch sind also nicht jene Texte oder Textteile, in denen Wirklichkeit abgebildet wird, sondern jene, in denen eine kohärente Ordnung gleich welcher Art gilt. Abweichungen davon können als "Wunderbares" oder "Phantastisches" bestimmt werden. Das Phantastische wird auf diese Weise zum relativen Regelverstoß, hergestellt wird es, indem spezifische Teile von Handlungssequenzen entfernt werden, die das Erzählte unerklärt und unerklärbar machen. Das Kernkriterium des Phantastischen ist also das Unbestimmte - allerdings nur in Beziehung zu jenem auch nur in der Realität des Textes hergestellten Regulären. Das Phantastische ist mithin ein "realitätssystemischer Skandal", so Dursts einprägsame Definition.

Das Phantastische ist Teil des literarischen Spiels, und sicher kein uninteressantester. Denn auf diese Weise rückt es von der Peripherie in das Zentrum der Theoriediskussion, kommt in ihm doch die Literatur als Kunst auf ihren Kern, nämlich die Fiktionalität zu sprechen.

Betrachtet man Dursts Diskussion allerdings ein wenig aus der Distanz, kommt ihr dezisionistischer Zug zumVorschein. Oder mit anderen Worten: Durst geht seinem eigenen Unwillen mit der - teils allerdings sehr banalen - Forschungsdiskussion auf den Leim. Denn zweifelsohne zeugt es von keinem allzu hohen Reflexionsstand, wenn das Phantastische an den Naturgesetzen gemessen werden soll und ein unkritischer Realitätsbegriff als fester Maßstab dienen soll. Denn entweder steckt dahinter ein banales mechanistisches Verständnis von der Natur und ihren Gesetzen oder die spekulativen Anteile etwa der modernen Physik heben das Kriterium selbst wieder auf. Wie dem auch sei, Sicherheit verspricht die Referenz jedenfalls nicht. Und das führt Durst dazu, sie gleich ganz aufzugeben und die Bestimmung des Phantastischen ins literarische Feld zu verlagern.

Nun wird man ihm dabei nicht grundsätzlich widersprechen wollen, denn in der Tat ist das Phantastische in der Erzählung immer in Beziehung zu setzen mit dem wahlweise Realistischen oder Regulären. Die Vernetzung von Texten zu einem Gesamtsystem des Literarischen ist gleichfalls Konsens. Mithin ist das Phantastische in seinen Ausformungen eben auch Ausdruck des Variations- und Modulationszwangs der Literatur. Mit Buchstaben Worte, Sätze und Erzählungen, ja ganze Imaginationsräume bilden zu können, ist zweifelsohne zudem eine wunderliche Sache. Umso wunderlicher, wenn diese imaginierte Welt voller merkwürdiger Gestalten und Geschehnisse steckt.

Dennoch geht das Phantastische nicht im Literarischen auf. Es ist stattdessen immer auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Systems, in dem es Funktionen übernimmt und eine spezifische Position einnimmt. Die Literatur ist eines der wichtigsten Kommunikations-, Reflexions- und Imaginationsmedien, ohne die eine komplexe Gesellschaft nicht zu denken ist (insofern ist der Gedanke einer engen Bindung des Romans an die Moderne, wie er von Georg Lukács oder Walter Benjamin formuliert worden ist, weiterzuspinnen). Ihre Bedeutung hat nicht zuletzt im Prozess der Modernisierung zugenommen, da sie im modernen Medienkonzert ein zentrales Modulations- und Wahrnehmungsinstrument geworden ist. Die Vielzahl der Geschichten, die die fiktionalen Medien erzählen, eröffnet Weltzugang ebenso wie sie Welterklärung bietet. Und das gilt eben auch für die phantastische Literatur, auch wenn auf den ersten Blick nicht zu sagen ist, was sie wie darstellt, ordnet oder erklärt.

Dieses Argument kann sogar noch radikalisiert werden, nämlich indem der mediale Zugang zur Realität verallgemeinert wird: Keine Wirklichkeit ohne mediale Vermittlung, wahrnehmungstheoretisch und physiologisch ebenso wie soziologisch oder symbolisch, also auf verschiedenen Komplexitätsstufen des Verhältnisses der Realität zum Medium. Naheliegend heißt dies, dass nicht die Realität die Wahrnehmung steuert, sondern die Wahrnehmung Außeneindrücke moduliert. Durst, hieße das, kämpft gegen ein bestimmtes Realitätsbild, in dem Naturgesetze und Phantastisches ein Gegensatzpaar bilden, und er negiert seine Bedeutung, indem er das Verhältnis zwischen Literatur und Realität gänzlich kappt. Damit aber beschneidet er zugleich die Bedeutung der Literatur innerhalb des gesellschaftlichen Raums (der von einer natürlichen, sozialen oder symbolischen Realität ausgehen muss, um funktionsfähig zu sein). Wenn er das Phantastische in den Raum des Literarischen (genauer noch des Narrativen) verweist, verwehrt er ihm seinen gesellschaftlichen Rang.

Die Produktivität des Literarischen im Allgemeinen wie des Phantastischen im Besonderen hängt indes an dieser Position im kulturellen Symbolisierungshaushalt. Und dass sie groß ist, kann kaum ernsthaft bezweifelt werden, auch wenn seine Produkte nicht jedermann gefallen müssen.

Das aber führt zum letzten Punkt, zur Funktion der terminologischen Klarheit. Zweifelsohne ist es ein hohes Gut, wenn ein Fachterminus eine hinreichende begriffliche Präzision erreicht. Allerdings ist auch hier nach der Funktion zu fragen. Geht es darum, sicherzustellen, dass sich alle, die sich an der Diskussion über das Phantastische beteiligen, über denselben Gegenstand sprechen, ist eine solche terminologische Sicherheit angenehm.

Allerdings zeigt gerade die terminologische Diskussion in den Literaturwissenschaften, dass eine solche Sicherheit mit dem Profil des Faches kaum vereinbar ist. Literaturwissenschaftler führen wohl vor allem Verständigungsdiskussionen, und in diesem Kontext dienen Fachtermini nur der relativen Orientierung. Mit anderen Worten, die Stabilität des Systems, die mit dem naiven Verweis auf Reales suspendiert wurde, lässt sich nicht einmal innerliterarisch oder gar terminologisch restituieren. Wir bleiben angewiesen auf die Diskussion von Sachverhalten, deren Prämissen niemals völlig geklärt sein werden. Aus dieser Perspektive aber sind nicht die innerliterarischen Modulationen von vorrangigem Interesse, sondern ihre Funktion für den gesellschaftlichen Symbolhaushalt. Und da gäbe es noch das eine oder andere herauszufinden.


Titelbild

Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur.
Aktualisierte, korrigierte und erweiterte Neuausgabe.
LIT Verlag, Berlin 2007.
436 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783825896256

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