Der wahrscheinliche Untergang

Harald Welzer schreibt über Klimakriege

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im 19. Jahrhundert protestierte das preußische Militär gegen einen sozialen Missstand: die Kinderarbeit. Aber nicht das Leid der Kleinen hatte die Herzen der Offiziere erreicht, sondern ihre desolate körperliche Verfassung. Extreme Ausbeutung, begann sie in allzu jungem Alter, erwies sich als Sicherheitsproblem.

Anderthalb Jahrhunderte später bleibt abzuwarten, ob wiederum Generale einen gesellschaftlichen Fortschritt befördern. Immerhin drohen "Klimakriege" - so der Titel von Harald Welzers neuem Buch, das eine bedrohliche Entwicklung skizziert. Es geht dabei nicht allein um die bereits seit einigen Jahren diskutierte Gefahr, dass besonders im Süden lokale und regionale Konflikte um Ressourcen wie Wasser und landwirtschaftlich nutzbaren Boden gewaltsam eskalieren. Welzers Szenario übersteigt auch drohende Kämpfe gegenwärtiger und aufsteigender Industriemächte um den Zugriff auf Rohstoffe. Sein Thema ist nichts weniger als das Ende der westlichen Zivilisation und Wirtschaftsweise, wie sie sich seit 250 Jahren etabliert haben.

Was Welzer zum Militärischen zu sagen hat, ist dabei kaum neu. Der Zerfall von Staatlichkeit in weiten Gebieten der so genannten Dritten Welt führt zu Gewaltökonomien, in denen alle Bürgerkriegsparteien an der Fortdauer der Konfrontation Interesse haben. Der Ausnahmezustand wird zum Normalfall, Opfer sind vor allem Zivilisten. Der Klimawandel lässt eine solche Alternative für viele Handelnde rational erscheinen, da die bisher übliche Landwirtschaft zum Überleben nicht mehr reicht. Der Konflikt von Darfur wird von Welzer als Vorbote eines solchen Krieges interpretiert; ein Blickwinkel, der dem von moralisierenden Menschenrechtlern widerspricht, die hier eine böse Regierung und dort unschuldig ermordete Opfer sehen. Welzer ist gegenüber der Brutalität der Vorgänge keineswegs gleichgültig. Der Politik der ethnischen Säuberung widmet er ein eigenes Kapitel, wie auch dem Terror, der die Gewalt in die westlichen Metropolen zurückbringt. Nur erscheinen bei ihm die Verantwortlichkeiten gegenüber dem Gewohnten verschoben. Die Gewaltakteure im Süden, soweit sie auf Klimaveränderungen reagieren, handeln unter Bedingungen, die Folgen des Wirtschaftens in den Industrieländern sind.

Es gehört zu den Paradoxien der von Welzer geschilderten Situation, dass die Verursacher der Probleme als Nutznießer der Weltwirtschaftsordnung auch über die Mittel verfügen, für sich die Folgen abzumildern. Die Versuche, heute in solche relativen Paradiese zu fliehen, erscheinen denn auch nur als Antizipationen künftigen Migrationsdrucks. Konsequent räumt Welzer der gegenwärtigen Praxis, klimatisch und ökonomisch bedingte Fluchtbewegungen abzuwehren, breiten Raum ein. Die Opfer, die die Abwehrmaßnahmen von EU und USA bereits jetzt fordern, werden ebenso anschaulich geschildert wie der Ansatz, Härten möglichst an Vorfeldstaaten zu delegieren. Im Idealfall erledigen Länder wie Libyen oder Marokko die Drecksarbeit mit Mitteln, die niemand so genau kennen will, und erreichen die "Asylanten" erst gar nicht das Schengen-Gebiet.

All dies für sich wäre unerfreulich, jedoch im Rahmen des historisch Üblichen. Das spezifisch Neue liegt aber erstens in der Erkenntnis, dass das Problem zwar die Sieger erst später und zunächst auf mildere Weise trifft; dass aber ein Wirtschaften, das auf Wachstum und damit steigendem Ressourcenverbrauch beruht, seine Grundlagen binnen weniger Generationen aufbraucht. Zudem haben auch die Industrieländer schon jetzt mit klimatischen Veränderungen zu kämpfen, werden Terrorismus und kulturell maskierte Konflikte immer mehr als Bedrohung definiert und führen zu gesellschaftlichen Veränderungen. Was all dies betrifft, ist Welzer pessimistisch, aber wohl kaum pessimistisch genug. Die Krise in den Industrieländern tritt nicht erst ein, wenn die Ressourcen zur Neige gehen. Sie ist da, wenn das Verhältnis von Angebot und Nachfrage den Preis für Rohstoffe derart in die Höhe treibt, dass die Verbraucher mit sinkenden Realeinkommen nicht mehr für das systemnotwendige Wirtschaftswachstum sorgen können. Das ist bald der Fall, wenn nicht schon jetzt.

Der zweite und wichtigere Zugewinn des Buchs liegt liegt in Welzers Ansatz zu einer Theorie der sozialen Wahrnehmung von Katastrophen; wobei Wahrnehmung und Handeln hier nicht getrennt sind und die Stärke von Welzers Erklärung gerade in ihrem kommunikativen, auf zwischenmenschliches Handeln ausgerichteten Aspekt liegt. Seine historische Folie ist die NS-Herrschaft und ihre sich rasch radikalisierende, in der Shoah endende Judenverfolgung. Welzer folgt hier einem strikt funktionalistischen Ansatz: Die Juden wurden nicht nach einem vorab feststehenden Plan ausgegrenzt und dann ermordet, sondern jede Stufe der Radikalisierung führte zu einer Situation, die einen neuen, zuvor gar nicht vorstellbaren Handlungsrahmen setzte und damit zu Taten, die wenig früher selbst den Tätern befremdlich erschienen wären.

In diesem Konzept der "shifting baselines" ist die Rolle von Ideologie und von Absichten minimiert und die Bedeutung situativer Problembewältigung herausgestellt. Gesellschaften und ihre Normen erscheinen so als in Krisensituationen extrem wandelbar - Welzer spart nicht mit Seitenhieben gegen Sozialwissenschaftler, die, lebensgeschichtlich bestimmt, Kontinuität als den Normalfall begreifen. Dem ließe sich historisch zwar manches entgegensetzen. Die Juden - statt etwa die "Arier" - konnten zur Opfergruppe werden, weil es seit langem etablierte Stereotypen gab, die das Regime aufgreifen und radikalisieren konnte. Methodisch hingegen ist der Zugriff ein Gewinn, denn damit wird deutlich, wie sich Wahrnehmungen rasch wandeln können und Maßnahmen, die kurz zuvor noch auf breite Ablehnung gestoßen wären, durchsetzbar und bald auch selbstverständlich erscheinen. So steht auch zu erwarten, dass die durch das Klima bestimmten Konflikte zu Kampfmaßnahmen bis hin zu Überwachungs- und Vernichtungspraktiken führen, die man heute noch als undenkbar klassifiziert.

Doch nicht nur der Blick auf Versuche der Problembewältigung ändert sich, sondern auch der auf das Problem selbst. Wie die Mittel, die Schwächsten zu den Opfern des Mangels zu machen, so wird auch der Mangel schnell zur Normalität. Welzer dokumentiert Befragungen von kalifornischen Fischern, die, in generationeller Schichtung, nicht etwa die Folgen von Überfischung wahrnahmen, sondern den je schlechteren Fang zu Beginn der eigenen Berufslaufbahn als das jeweils Normale begriffen. So steht zu erwarten, dass nicht die Ursache des Klimawandels beseitigt, sondern nur seine Folgen bekämpft werden. Dabei dürften die je Schwächeren in die Position des Feindes geraten. Ideologien spielen dabei für Welzer eine noch geringere Rolle als im vergangenen Jahrhundert; sie dienen allenfalls dazu, eine Praxis nachträglich zu legitimieren.

So fragt sich, was zu tun möglich bleibt. Welzer hat zwei Schlusskapitel geschrieben, dessen zweites mit einem Motto von Heiner Müller versehen ist: "Optimismus ist ein Mangel an Information." Hier erscheint die Lage aussichtslos. Die Industriegesellschaften sind nicht in der Lage, in der kurzen Zeit, die allenfalls noch bleibt, ein grundlegend anderes ökonomisches und kulturelles Modell zu wählen. Dabei wird denkbar, dass Gesellschaften oder sogar die Gattung Mensch untergehen können. Welzer lässt keinen Zweifel, dass er diese Variante für die wahrscheinlichere hält; dennoch skizziert er zuvor einen vielleicht noch möglichen Ausweg. Dabei spielt nicht eine bessere Technik die Hauptrolle, sondern ein soziales Innehalten, ein Nachdenken über gutes Leben, das zu einem anderen Umgang mit Ressourcen führt. Das Neue sieht Welzer nicht unter dem Vorzeichen des Verzichts, sondern eines Gewinns an Lebensqualität, die nur eben anders definiert ist als zuvor.

Überzeugt der Ansatz? Im Ganzen: ja. Welzer schildert eindringlich die Gefahren; etliche Wiederholungen hätte ein besseres Lektorat gestrichen. Manche These ertrinkt fast in der Menge der Zahlen und Fakten, vor allem was die Grenzsicherung der reichen Länder angeht - doch werden die grundlegenden Probleme klar. Weniger überzeugt allein die positive Variante, die Welzer der eigenen Überzeugung entgegen skizziert.

Dabei kommt es zu Widersprüchen. Ist jeder Versuch, die von der Technik hervorgerufenen Probleme mit besserer Technik zu lösen, "Teil des Problems und nicht der Lösung" - oder sollten, nur eine Seite danach, die "Hochtechnologiestaaten den Staaten mit nachholendem Modernisierungsbedarf kostenlos Technik zur Emissionsminderung oder besser -vermeidung zur Verfügung stellen"? Wohl eher das letztere, wie ein Zurück zu den Werkzeugen des 18. Jahrhunderts angesichts der Überlebensinteressen von gut sieben und bald vielleicht zehn Milliarden Menschen ein Massensterben und wahrscheinlich jene Kämpfe, vor denen Welzer gerade warnt, zur Folge hätte.

Auch ist auf Freiwilligkeit wenig zu hoffen. Es stimmt ja, dass das Weltklima drei Milliarden Menschen aus China, Indien, Brasilien und einer Handvoll weiterer Schwellenländer, die auf das Niveau des reichen Westens gelangen, nicht ertragen könnte und die Verwirklichung von Gleichheitsforderungen fatal für alle Beteiligten wäre. Aber besteht auch nur der Hauch einer Chance, dass die Aufsteiger, die sich per Internet leicht über das heute Mögliche und in manchen Teilen der Welt Reale informieren können, sich an einem anderen Bedürfnismodell orientieren? Dass die relativ Reichen im Norden, die vielleicht noch ein paar Jahre länger ihre Vorteile genießen können, Genussmöglichkeiten durch Verzicht erkennen? Zumal unter ihnen die allmählich Verarmenden, die die kurzfristigen Gewinner der Globalisierung direkt vor den Augen haben?

Ein Wandel von unten, wie er in Deutschland vor zwanzig Jahren unter besseren Bedingungen nur eine winzige Minderheit mobilisieren konnte, erscheint wenig wahrscheinlich. Den linken "Totalitarismen" des zwanzigsten Jahrhunderts wirft Welzer vor, einen neuen Menschen mittels Gewalt erstrebt zu haben. Er hofft hingegen, dass ein solcher neuer Mensch durch Einsicht entsteht. Nichts aber deutet darauf hin.

Welzers Katastrophenfolie ist das bislang entsetzlichste Ereignis der westlichen Geschichte, die von Staat und Partei initiierte und schrittweise radikalisierte Shoah. Dieses Negativum belegt die Macht von Führungsstrukturen, Schritt für Schritt neue Realitäten und damit neues Verhalten zu schaffen. Die Rettung, sofern sie überhaupt noch möglich ist, müsste, positiv gewendet, eher dieser Linie folgen: dass ein Staat, der endlich einmal als Agent der Vernunft agiert, Bedingungen setzt, die ein neues Handeln erfordern und bald als Normalität erscheinen lassen. Bevor es wieder die Generale sind, die berufsbedingt Notwendigkeiten erkennen und ohne Sentimentalitäten regeln, wofür es vorerst keine Mehrheiten gibt, sollte der Staat seine Rolle als Verteidiger des Bestehenden aufgeben. Das aber kann er nicht von selbst; der Kampf um eine Lösung wird so, anders als Welzer vermutet, der Kampf um staatliche Macht.


Titelbild

Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
335 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783100894335

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