Zwischen Kachelöfen und Apfelrührkuchen

Die Bilder des Fotografen Helfried Strauß zeigen das offizielle Gesicht des literarischen Lebens in Leipzig zur Zeit der DDR - und lassen vieles offen, was dahinter liegt

Von Karen RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Eingangsfotos des von Peter Gosse und Helfried Strauß herausgegebenen Bildbands scheinen ein bekanntes Klischee zu bedienen: Ein lesehungriges Publikum drängte sich zur Messezeit in dichten Trauben um die Buchstände der Verlage. Da wurde gedrängelt und geschubst, die Kasse klingelte, die um die Tische aufgetürmten Büchertürme verringerten sich immer mehr. Manch einer legte noch einen Sprint hin, um als Erster zur Autogrammstunde seines favorisierten Autors zu kommen. Ein fotografisches Zeugnis des Leselandes DDR? Oder Ausdruck eines Missverhältnisses? Denn ja, man wollte lesen, aber genauso wollte man frei entscheiden können, was. Die breite Palette derjenigen Bücher, die zu Messetagen auf den Tischen lagen, war während des restlichen Jahres in den Buchhandlungen des Landes nicht zu finden.

Helfried Strauß war mit seiner Kamera dabei, als sich in den 1980er-Jahren die Großen der Ost- und Westliteratur in Leipzig begegneten. Er war der stille Beobachter im Hintergrund, wenn vorn auf der Bühne Peter Rühmkorf oder Christa Wolf lasen. Die Fotos, die bei diesen Lesungen entstanden, gehören zu den eindringlichsten des Bandes: Strauß drückte dann auf den Auslöser, wenn Franz Fühmann oder Hans Magnus Enzensberger sich ganz in den Text eingelesen hatten, wenn sie gestenreich das Geschriebene illustrierten. Die Mimik zeigt es: In diesen von Strauß festgehaltenen intimen Momenten waren sie ganz in ihrer Literatur. Dann gab es keine Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Autoren. Fast könnte man Elmar Faber zustimmen, der in einem dem Buch beigesteuerten Text davon spricht, dass die Literatur in diesen Tagen ein Bindeglied war, zwischen allen, die die Welt verbessern wollten.

Viele der Fotos sind im Auftrag des ehemaligen Reclam-Chefs Hans Marquardt entstanden, wenn dieser nach den Verlagslesungen des Tages am Abend ausgewählte Gäste zum Umtrunk in seine Wohnung geladen hatte. Die Bilder mit heiteren Plaudereien bei Wein und Kuchen vermitteln eine Atmosphäre behaglicher Nestwärme. War literarisches Leben in Leipzig zwischen 1970 und 1990 tatsächlich klein, überschaubar und kuschelig? Die Texte, mit denen die einzelnen Bildteile gegliedert werden, bestätigen das offenbar. Kaum einer der dort versammelten Autoren, Verleger oder Publizisten findet in seinen Erinnerungen an das literarische Leipzig in der DDR etwas Negatives. Kritik lässt sich bestenfalls erahnen, wenn etwa Michael Krüger erzählt, wie an seinem Messestand unter den Augen der Polizei stundenlang junge Leute wie Mönche Lehrbücher abschrieben, die er ihnen nicht schenken durfte.

Kritisch will das Buch nicht sein. Daran stößt sich auch Erich Loest. "Meine siebziger Jahre waren anders" schreibt er in seinem Beitrag zu diesem Band. Loest war von 1957 bis 1964 im Gefängnis Bautzen II inhaftiert. Sein Schicksal erinnert daran, wie massiv die Staatsmacht mitunter gegen diejenigen Literaten vorgegangen ist, die sich mit den offiziellen Schemen nicht arrangieren wollten. In seiner Rezension des Buches in der "Süddeutschen Zeitung" bekommt die Weltoffenheit von Hans Marquardts literarischen Salon weitere Risse: Mit dem Gastgeber, laut Loest IM "Hans", war offenbar auch die Stasi zugegen.

"Weltnest" dokumentiert den offiziellen Teil des literarischen Lebens in Leipzig zur DDR-Zeit. Über dessen Kehrseite, die vielfältige Leipziger Subkultur, schweigen sich Fotos und Texte aus. Deshalb sollte neben dem Bildband von Gosse und Strauß "Revolution im geschlossenen Raum. Die andere Kultur in Leipzig 1970-1990", herausgegeben von Uta Grundmann liegen. Beide Bücher zusammen können eine Ahnung davon entstehen lassen, wie literarisches Leben in Leipzig zwischen 1970 und 1990 aussah.


Titelbild

Peter Gosse / Helfried Strauss (Hg.): Weltnest. Literarisches Leben in Leipzig 1970 - 1990.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2008.
160 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783898125086

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