Wie fragen, wie lügen?

Michael Niehaus' Untersuchung eines paradigmatischen Verhörs im 18. Jahrhundert

Von Simon HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Konstanz im Herbst 1787. Der Wagnermeister des örtlichen Spitals, Jakob Sauter, steht unter Verdacht, seinen Gesellen erschlagen zu haben. Er hat weder ein Alibi, noch gibt es andere Verdächtige. Die Sache ist also klar. Den Richtern fehlt einzig das Geständnis. Michael Niehaus interessiert sich nun dafür, wie sie dieses Geständnis vom Beschuldigten erhalten und wie Sauter sich gegen die Verhörstrategien zu verteidigen sucht. Nicht dieser eher gewöhnliche Fall macht diese Studie besonders interessant, sondern dass dieser an einer Übergangsstelle von alten zu neuen Befrageformen steht. "Wie lässt sich verhören nach der Abschaffung der Folter?" könnte demnach auch die Leitidee dieser Studie lauten.

Niehaus geht dabei chronologisch vor. Er untersucht nahezu alle im Verhör geleisteten Frage- und Antwortkomplexe, vom ersten bis zum 293. und letzten. Die Richter und der Verdächtige verhalten sich erwartungsgemäß. Gerade aber das macht den Fall für Niehaus untersuchenswert. Sein zentrales Ziel ist es, das Paradigmatische dieses Verhörs herauszuarbeiten. Er möchte zeigen, was in Verhören geschieht, vor allem wie Sprache und Verhalten der beteiligten Personen von der Situation und dem jeweiligen Platz im Machtgefüge bestimmt werden.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Befragung Sauters Parallelen zu heutigen Verhören aufweist, obwohl sie im ausgehenden 18. Jahrhundert stattfindet. Über einen nur wenige Jahrzehnte älteren Fall könnte dies vermutlich nicht gesagt werden.

In der Zeit um 1800 begann die europäische Strafjustiz, ihre moderne Form herauszubilden. Es handelte sich hierbei um jenen Prozess, den Michel Foucault in "Überwachen und Strafen" (1975) eingehend untersucht hat. Sein wesentliches Charakteristikum bestand im allmählichen Verschwinden der Folter. Dadurch aber wurden Verhöre komplex, wie Niehaus in seiner Fallstudie zeigt.

Durch das Verbot der Folter sind Gerichte dazu gezwungen, Verdächtige nur mit kommunikativen Mitteln zum Geständnis zu motivieren. Sie müssen die Befragung so führen, dass Verdächtige ihre Schuld nicht mehr verheimlichen können. Deren neue Herausforderung besteht darin, genau dieser aussichtslosen Situation durch passende Antworten zu entgehen. Das ist nur durch eine außerordentliche intellektuelle Leistung möglich. Sie müssen alle Implikationen ihrer Antworten überblicken und sich auf mögliche Folgefragen einstellen. Erschwerend kommt hinzu, dass kaum Zeit zum Überlegen bleibt.

Der Wagnermeister scheitert an dieser Aufgabe. Er verheddert sich in einem Netz aus Widersprüchen, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt. Es läge nahe, Sauters Unfähigkeit, auch nur eine erfolgversprechende Antwort zu geben, auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen. Dankenswerterweise gibt sich Niehaus in seiner Studie mit diesen einfachen Erklärungen nicht zufrieden. Er weist darauf hin, dass Sauters Lebensweg eher das Gegenteil vermuten lasse. Aus armem Elternhaus kommend, hat er es zu einem angesehenen Wagnermeister und einem kleinen Vermögen gebracht. Sein Versagen im Verhör darf also weniger auf seine vermeintliche Dummheit als auf die besondere Situation zurückgeführt werden. Hier werden Fähigkeiten abverlangt, deren Sauter zuvor nie bedurft hat. Außer der Erfahrung fehlt ihm verständlicherweise die notwendige Ruhe, komplexe Reflexionen anzustellen. Er weiß um die Macht des Gerichts, ihn zu bestrafen oder zu verschonen. In dieser Ausnahmesituation überlegt zu handeln ist keine Selbstverständlichkeit.

Die Verunsicherung des Verdächtigen bestimmt seine Aussagen, aber auch die Befragung durch die Untersuchungsrichter. Sie zielt darauf ab, die Irritation und Angst des Verhörten weiter zu steigern. Hierdurch soll er dazu verleitet werden, sich in Widersprüchen zu verlieren. In einem zweiten Schritt bemühen sich die Richter, dem Verdächtigen eine Beweisführung vorzulegen, der er nicht widersprechen kann. Am Fall Sauters möchte Niehaus illustrieren, dass sich das klassische Verhör aus zwei Hauptphasen zusammensetzt. Zuerst soll der Inquisit zugestehen, dass er gelogen, dann, dass er die Tat begangen hat.

Tatsächlich läuft das von Niehaus untersuchte Verhör nach diesem Muster ab. Die überlegte Befragungsweise zwingt den Verdächtigen zu sich widersprechenden Lügen und schließlich zum Geständnis. Die Untersuchung scheint abgeschlossen, der Fall gelöst; wäre da nicht der schon im Titel der Studie angekündigte Widerruf. Dieser ist kein Paradigma des modernen Verhörs. An ihm erweist sich, dass der Fall Sauters bei allen Parallelen zu heutigen Verhören zeittypische Züge aufweist. Der Widerruf ist, wie Niehaus überzeugend argumentiert, nicht einer besonderen psychischen Disposition des Wagnermeisters geschuldet, sondern der Befragungsweise der Untersuchungsrichter.

Zum Zeitpunkt des Verhörs ist die Folter in Konstanz erst seit wenigen Jahren abgeschafft. Daher haben die Richter noch nicht die nötigen Erfahrungen mit der neuen Form des Verhörs gemacht, in der an die Stelle der Folter andere Formen kommunikativen Drucks, wenn nicht Zwangs getreten sind. Das "noch nicht", das Niehaus als historischen Index der Verhöre Sauters bezeichnet, führt zu einem grundlegenden Fehler im Umgang mit dem Geständnis. Dieses wird von den Richtern nicht als Leistung des Verdächtigen bewertet. Ihnen ist nicht bewusst, welche Überwindung es kostet, einen Mord einzugestehen. Anstatt im Moment des Geständnisses den Mut Sauters zu würdigen, endlich die Wahrheit gesagt zu haben, fragen die Richter nach dem konkreten Ablauf des Geschehens. Hierdurch verpassen sie es, den Verdächtigen an sein Geständnis zu binden. Im Moment des Geständnisses besteht die einmalige Chance, mit dem Täter über seine Motive und Gefühle zu sprechen. Die Tat und ihre Hintergründe nehmen konkrete Formen an. Dies macht einen Widerruf zwar nicht unmöglich, aber sehr viel schwieriger.

Niehaus' Studie ist empfehlenswert. Mustergültig arbeitet er an einem Einzelfall das Paradigmatische heraus. Der Leser wird über die einzelnen Stadien des klassischen Verhörs und die Veränderungen der Strafjustiz am Ende des 18. Jahrhunderts informiert. Die Einordnung in den zeithistorischen Kontext - so die einzige, aber wesentliche Kritik - ist aber unzureichend. Niehaus geht weder auf die Gründe für die Abschaffung der Folter ein, wie sie von Foucault oder jüngst von Jan Philipp Reemtsma in "Vertrauen und Gewalt" (2008) benannt wurden, noch bietet er sozialgeschichtliche Erklärungsmuster für die Denk- und Verhaltensweisen der Richter. Die Tat Sauters erscheint der Untersuchungskommission beispielsweise besonders verwerflich, da sein Handeln, rational gesehen, unnötig war. Von seinem Mord hatte er keine Vorteile zu erwarten. Die Richter verraten durch diese Haltung ein Menschenbild, welches das Ideal im rein rational gesteuerten Individuum sieht. Dass der Mensch aber auch Affekte kennt, der Mord also auch aus Zorn oder Wut begangen worden sein könnte, wird von ihnen verkannt. In ihrer Denkweise sind sie eher der rationalistischen, affektkritischen Phase der Aufklärung und nicht der späteren, empfindsamen zuzurechnen. Mitleid, das nach Gotthold Ephraim Lessing die Fähigkeit ist, sich in sein Gegenüber einzufühlen, kennen sie nicht. Vergleichbare Einordnungen, die das Verhalten der am Verhör beteiligten Personen verständlich machen, hätten Niehaus' Studie noch lesenswerter gemacht.


Titelbild

Michael Niehaus: Mord, Geständnis, Widerruf. Verhören und Verhörtwerden um 1800.
Posth Verlag, Bochum 2006.
237 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3981081404

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