Negationen, Oppositionen und Subtexte

Edward Said, die postkolonialen Studien, die deutschsprachige Literatur - und die Germanistik

Von Axel DunkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Dunker

Wir haben es mit der paradoxen Situation zu tun, dass in den USA teilweise schon das Ende der Postcolonial Studies verkündet worden ist, während man in Deutschland das Gefühl haben kann, mit einem Interesse an kolonialen beziehungsweise postkolonialen Zusammenhängen innerhalb der Germanistik immer noch ganz am Anfang zu stehen. Und das, obwohl es inzwischen eine ganz Reihe von sehr ernst zu nehmenden Arbeiten zu diesem Problemkomplex gibt. Die Zunft der Germanistik aber betrachtet das postkoloniale Paradigma scheinbar immer noch als etwas eher Randständiges, obwohl es doch Teilbestand der Öffnung der Literaturwissenschaft in Richtung Kulturwissenschaft sein könnte. Mehr noch: da es in den Postkolonialen Studien immer auch um die gesellschaftlich aktuell sehr bedrängenden Probleme interkulturellen Zusammenlebens geht, könnten sie ein Gegengewicht gegen die häufig beklagte mangelnde gesellschaftliche Relevanz der Germanistik bieten.

Was sind die Gründe für diese Geringschätzung? Ein Grund dafür scheint darin zu liegen, dass man der Auffassung ist, das Koloniale oder Postkoloniale sei für die eigentlich kanonischen Autoren der deutschen oder gar der deutschsprachigen Literatur irrelevant. Zweitens sei es, wenn überhaupt, dann nur thematisch relevant, eigentlich ästhetische Fragestellungen seien davon nicht betroffen. Und drittens sei, wie vor allem Edward Saids Orientalismus-Buch zeige, der Postkolonialismus doch eigentlich nur daran interessiert, die Literatur am Maßband politischer Korrektheit zu messen und gewissermaßen moralische Noten zu verteilen.

Alle drei Einwände scheinen nicht ganz falsch zu sein, sie lassen sich aber alle drei auch widerlegen.

Erstens: erforderlich sind nach im gegenwärtigen Stadium historische Studien, die an den kanonischen Autoren gerade der eigentlichen Kolonialzeit, also des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zeigen, dass für diese Autoren die Existenz des Kolonialismus selbstverständlicher Bestandteil ihres Blicks auf die Welt war, den sie mit ihren zeitgenössischen Lesern teilten. So selbstverständlich, dass der Kolonialismus gar nicht eigens zusammenhängender thematisiert werden musste und doch Bestandteil ihrer Modulierung von Welt war. Einige Studien etwa zu Theodor Fontane haben in dieser Richtung einiges erbracht, man kann das aber genauso auch zeigen für E.T.A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff, Adalbert Stifter und Theodor Storm, Gottfried Keller und Wilhelm Raabe.

Zweitens wäre zu demonstrieren, dass im kolonialen Weltbild a priori eine Struktur steckt, eine Struktur der Ungleichheit, der Disproportion, der Asymmetrie, der Hierarchisierung etwa von Geschlechtern, die sich in der Literatur wiederfinden lassen, und zwar jenseits von Thematisierungen und damit gerade in den ästhetischen Strukturen der Texte.

Drittens: die postkoloniale Theorie und die politische Korrektheit. Da für die deutschsprachige Literatur aus historischen Gründen einige Kernkategorien der amerikanischen Postcolonial Studies wie 'Writing Back', Hybridisierung, 'Third Space' und so weiter von geringerer Bedeutung sind - beziehungsweise erst für die selbst schon postkoloniale Migrationsliteratur der Gegenwart von Relevanz sind - ist von den 'Großen Drei' der Theorie (Homi Bhabha, Gayatri Spivak, Edward Said) bei aller nicht unberechtigten Kritik an letzterem wenigstens in einem ersten Zugriff doch vor allem er von zentraler Bedeutung. Die Fixierung auf dessen Orientalismus-Buch von 1978 verstellt aber die Tatsache, dass er in späteren Arbeiten, vor allem in seinem Buch "Culture and Imperialism" (1993), gerade nicht nur normativ-wertend verfahren ist, sondern mit seinem Lektüreverfahren der "kontrapunktischen Lektüre" vorgeführt hat, wie man einer Literatur begegnen kann, in der das Koloniale bestenfalls marginal zu sein scheint - und wie man dann zeigen kann, dass es das gerade nicht ist. Der Roman des 19. Jahrhunderts ist für Said Ausdruck und zugleich Katalysator für den Kolonialismus als herrschender Ideologie seiner Zeit, zumindest in den klassischen Kolonialmächten wie Frankreich und vor allem England. Dazu bedarf es für Said keiner Thematisierung des Kolonialismus in den Romanen, im Gegenteil, die Mentalität, eine Asymmetrie im (Macht-)Verhältnis von Europa und dem Rest der Welt für selbstverständlich und unhinterfragbar zu halten, wird für Said ganz wesentlich durch die ästhetische Faktur des realistischen Romans im weiteren Sinne bestätigt, ja hergestellt.

Der realistische Roman koppelt die Sphäre der Kultur von der Performanz der politischen Herrschaftsstrukturen scheinbar ab und suggeriert eine Autonomie der Kunst, die die Wirkung der in ihr unterschwellig enthaltenen Ideologeme aber gerade dadurch besonders wirkungsvoll macht. Aus dieser These der Scheinautonomie des Romans im 19. Jahrhundert ergibt sich auch die Methode, die Leseweise, mit der Said an diese Texte herangehen will. Er bezeichnet sie als "contrapuntal reading", als "kontrapunktische Lektüre". Der aus der Musiktheorie stammende Begriff des Kontrapunktischen geht an gegen ein Verständnis des "kulturellen Archivs" als "univokes Phänomen". Es geht um ein "Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und [wichtige Ergänzung:] im Verein mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert." Auch er braucht die Gegenstimme, die "Widerparts, Negationen und Oppositionen", um die eigene Identität zu formulieren. Auch in den Romanen, die wichtiger Bestandteil dieses kulturellen Archivs sind, müssen diese Gegenstimmen enthalten sein, nur sind sie nicht hörbar. Es gilt also, eine Relektüre des Kanons durchzuführen, die die Polyphonie zum Vorschein kommen lässt, etwa indem westlichen Autoren wie Rudyard Kipling und Joseph Conrad eine ganz neue Aufmerksamkeit entgegengebracht oder indem die "manifest imperialistische Thematik, die ein langes unterirdisches Vorleben im Werk von Autoren wie etwa Austen oder Chateaubriand" führt, in ihren Texten zum Vorschein gebracht wird.

Auch in der deutschen Literatur steckt das Koloniale in der Struktur der Texte, im 19. Jahrhundert vor allem im Doppelbödigen des Realismus, der mit der Differenz arbeitet zwischen Außenseite und Untergrund, zwischen Oberflächendiskurs und Subtext. Im Gegensatz zur englischsprachigen Literatur einer Jane Austen etwa ist in der Rezeption der Texte von Eichendorff, Storm, Keller, Raabe und anderen der Konstruktion entsprechender Subtexte bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Hier ist offenbar ein 'post-kolonialer Blick' (Paul Michael Lützeler) gefordert, der in den Texten erst das erkennen kann, was durchaus in ihnen an kritischem oder dem herrschenden Diskurs zuwiderlaufenden Potential angelegt ist. Methodisch ist dafür eine Engführung von Diskursanalyse und Close Reading zu favorisieren.

Texte in dieser Perspektive zu lesen, bedeutet aber gerade nicht, sie normativ oder denunziatorisch zu lesen. In diesem Sinne hat gerade eine postkoloniale Lektüre darauf zu achten, die Literatur vergangener Zeiten nicht wiederum 'kolonial' zu lesen, also sie an unseren eigenen Wertungsmaßstäben zu messen und diese auf sie zu projizieren, sondern ihr auch in der Begegnung der Zeiten - oder hermeneutisch mit Hans Georg Gadamer gesprochen: der Horizonte - ihr Recht zu lassen. Auch hier kann es weder um Verurteilung noch um Verschmelzung gehen, sondern um etwas Drittes, um den behutsamen Nachvollzug eines Gemachten in all seinen Facetten, wozu die Ausfaltung des Subtextuellen und Implizierten gehört. Insofern kann gerade eine postkoloniale Lektüre dem Verständnis von Texten entscheidende Elemente hinzufügen und damit, ist jedenfalls zu hoffen, auch für eine vor allem an ästhetischen Fragestellungen interessierte Literaturwissenschaft interessant werden.